Schlag nach bei Böll: Vielleicht können wir von den Südeuropäern lernen

Wer im Europa des Jahres 2013 etwas erreichen will, benötigt nicht viel: Ein Poster mit dem Konterfei der Kanzlerin und einen Edding, um Angela Merkel einen Hitler-Bart aufzumalen – schon kommt man in alle Nachrichtensendungen. Oder man warnt, wie der luxemburgische Außenminister, bedeutungsschwer vor einem „deutschen Diktat“ in Europa, wenn es um das eigene Geschäftsmodell als Steueroase geht. Und es gibt Applaus.

Oder man gibt dem Streber im Norden so richtig einen mit, um auf dem medialen Schulhof die Herzen zu erobern: „Die Deutschen, das ist ein Modell für diejenigen, die sich nicht für das Leben interessieren“, sagte unlängst Jean-Luc Mélenchon, der Chef der französischen Linksfront. „Aber für diejenigen, die sich für das Leben interessieren, von denen hat doch niemand Lust, Deutscher zu sein.“

Und wenn der Linksausleger der französischen Politik erst einmal lospoltert, kann ihn so rasch niemand stoppen: „Sie sterben früher als die anderen, haben keine Kinder, und ihre Einwanderer hauen wieder ab, weil sie nicht mit ihnen leben möchten.“ Das ist natürlich unverschämt, populistisch, ausländerfeindlich (schließlich sind wir Deutschen Ausländer). Aber leider ist die Polemik nicht ganz falsch.

Tatsächlich lebt es sich in den Krisenstaaten mit dem treffenden Namen Club Med länger: Italien, Frankreich und Spanien liegen bei der Lebenserwartung ganz vorne, auch die Zyprioten, Portugiesen, Malteser und sogar die Griechen beißen laut Eurostat später ins Gras.

Weit hinten hingegen rangieren die Deutschen bei der Geburtenrate – ganz vorne hingegen, man ahnt es bereits: Die Krisenstaaten Irland und Frankreich. Und abgesehen von den libyschen Flüchtlingen, verlassen tatsächlich zu viele Zuwanderer Deutschland wieder: So ist in den vergangenen Jahren nur jeder zweite Grieche und jeder dritte Spanier länger als ein Jahr geblieben. Wir können es uns schönreden und die Verantwortung aufs Wetter schieben. Oder hat es mit uns zu tun?

Vielleicht sind wir einfach zu verkrampft. Es gibt die wunderbare Geschichte von Heinrich Böll, die literarisch vieles von dem, was in Europa verkehrt läuft, vorempfindet. In seiner Ballade zur Senkung der Arbeitsmoral beschreibt er, was passiert, wenn ein Tourist (aus Deutschland?) in Westeuropa (Portugal?) auf einen entspannten Fischer am Hafen trifft. Der Reisende aus dem Norden gibt ihm gut gemeinte Ratschläge zur Steigerung seines Ertrags und verspricht ihm eine goldene Zukunft. Wenn sein Unternehmen so richtig gut liefe, könne er später einfach am Hafen sitzen und sich entspannen. Nur, was macht der Fischer schon jetzt den halben Tag? Und warum werden wir gerade in der Sommerfrische im Süden so seltsam selbstkritisch?

Auch der österreichische „Standard“ warnte schon vor drei Jahren: „Die deutsche Neigung zum Fleiß und zum Selbstverzicht schafft genau jene globalen Ungleichgewichte, die zuerst das internationale Finanzsystem und dann die Gemeinschaftswährung ins Wanken gebracht haben.“

Das geht sehr steil, ganz falsch aber muss es nicht sein. Sicher: Südeuropa sollte deutscher, oder formulieren wir es politisch korrekt, schwäbischer werden.

Zugleich aber darf auch Deutschland französischer oder österreichischer werden – nicht im Verständnis eines Staatskapitalismus, aber beim Savoir-vivre oder der Gemütlichkeit. Wir dürfen ruhig ein bisschen weniger erfolgsversessen, weniger karrierebesessen und weniger verbiestert werden. Eine Gesellschaft des kollektiven Burn-outs kann nicht das Ziel sein, erst recht nicht vor dem Hintergrund, dass Deutschland in den kommenden Jahren noch viele Milliarden in den Süden überweisen soll. Die anderen müssen besser, wir dürfen etwas lockerer werden. Das macht uns zufriedener und sympathischer.

Am Ende bekommen wir sogar mehr Kinder und werden älter. Das wäre übrigens das beste aller Konjunkturprogramme für Europa.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt