Velorouten, Radprogramm, Fahrradoffensive. Vieles ist angekündigt worden, aber nur wenig umgesetzt

Beginnen wir diese Kolumne ausnahmsweise mit einem Ratespiel. Wann wurden unten stehende Zeilen erstmals gedruckt? 2003? 2008? Oder 2012?

Vielleicht liegt es am Wetter, das sich in den vergangenen Wochen ganz unhanseatisch glänzend präsentiert. Vielleicht liegt es am Dauerstau, der Hamburgs Automobilisten morgens wie abends zu einem großen Lindwurm verbindet. Vielleicht liegt es auch einfach an einer Mode – Radfahren ist schick, und immer mehr Hamburger steigen auf den Drahtesel. Der Statistik zufolge liegt der Anteil der Velonutzer am Verkehrsaufkommen bei zwölf Prozent – Tendenz steigend. Von den Werten anderer europäischer Metropolen ist die Hansestadt aber immer noch meilenweit entfernt. In Amsterdam oder Kopenhagen wird jeder dritte Weg mit dem Velo zurückgelegt. Möglicherweise radeln die Hanseaten hinterher, weil sie nicht nur stramme Waden, sondern auch einen Überschuss Mut benötigt: Viele Fahrradwege in Hamburg spotten jeder Beschreibung: Einige sind nicht breiter als ein Handtuch, andere als Parkplätze für Sportwagen zweckentfremdet, wieder andere erinnern eher an Hindernisparcours, die mit sämtlichen überschüssigen Pollern der Verkehrsbehörde und einem Schilderwald eng bepflanzt wurden. Und um das Chaos perfekt zu machen, benehmen sich etliche Radler noch wie Zweirad-Rowdys. Für sie scheint die Straßenverkehrsordnung dieselbe Verbindlichkeit zu besitzen wie der katholische Katechismus für eingefleischte Atheisten: Licht halten sie für langweilig, Einbahnstraßen offensichtlich für einen Wortwitz und Rücksichtnahme auf Fußgänger für ängstlich. Bevor Hamburg also zu Kopenhagen aufschließt, müssen Politik und Radler eine Große Koalition der Vernunft schließen – und wohl auch das Wetter mitspielen.

Sie ahnen es. Es ist über zehn Jahre her. Kürzlich stolperte ich über meinen Kommentar vom 17. Juni 2003. Damals lachte die Sonne monatelang über Deutschland, in der Innenbehörde hieß der Präses Ronald Barnabas Schill, der HSV lag mit zwei Punkten Rückstand auf Dortmund auf dem vierten Rang, ein Liter Super kostete gut ein Euro. Es war eine andere Zeit – nur nicht für Fahrradfahrer.

Auch wenn an der ein oder anderen Stelle inzwischen Einbahnstraßen geöffnet werden, ein Radstreifen aufgemalt wurde oder eigene Ampelschaltungen hinzukamen, eine Fahrradstadt ist Hamburg noch immer nicht. Und inzwischen fürchte ich, sie wird es nimmer mehr. Und daran ändert auch das geniale rote Stadtrad nichts. Auf die mehrfach angekündigten 14 Velorouten warten die Hamburger bis heute, das Ziel, den Radanteil auf 18 Prozent zu erhöhen, hat der Senat erst kürzlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Es wäre aber unredlich, nur den Senat verantwortlich zu machen, auf bezirklicher Ebene sieht es nicht besser aus.

Das Fahrrad ist in Hamburg noch immer das fünfte Rad am Wagen – und die wichtigen Systeme haben in der Philosophie der meisten Verkehrspolitiker eben vier Räder (nur beim Bus dürfen es ein paar Achsen mehr sein). Solange Velo- Fahrer den Verkehr nicht behindern, bekommen sie ihre Streifen, aber im Falle eines Streitfalls ziehen sie den Kürzeren. Einen Fahrradbeauftragten mit Durchgriffsmöglichkeiten gibt es in Hamburg noch immer nicht, auf neue Fahrradstraßen warten man in Hamburg noch immer.

Dabei müssten nicht einmal Millionen Euro bewegt werden – schon kleine Maßnahmen machen das Radeln attraktiver, sicherer und einfacher. Entfernt man beispielsweise die Mittelmarkierungen verlangsamt sich der Verkehr spürbar, Auto- und Velofahrer nehmen mehr Rücksicht aufeinander. Rotfärbungen am Fahrbahnrand haben dieselbe Wirkung, genau wie besondere Warteflächen vor Ampeln.

Für all diese Maßnahmen bedarf es nur vieler Eimer Farbe – und des politischen Willens. Es würde schon genügen, bei jeder Sanierung das Fahrrad mitzudenken. Im vergangenen Jahr reichte es gerade zu einem einzigen neuen Radstreifen bei Straßensanierungen. Immerhin sollen im laufenden Jahr von 63 sanierungsbedürftigen Hauptverkehrsstraßen nun 46 ein Radfahr- oder Schutzstreifen bekommen. Das senkt zumindest die Wahrscheinlichkeit, 2023 erneutes Kolumenrecycling betreiben zu dürfen.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt