Wenn Hunderttausende beim Schlagermove schunkeln und picheln, beginnt der Ausnahmezustand

Ein Gerücht elektrisierte gerade das ahnungslose St. Pauli: 2014 sollen Harley Days und Schlagermove auf denselben Tag fallen, nämlich den 28. Juni. Das sorgt für Unruhe, denn nach dem vergangenen Wochenende befindet sich der Stadtteil immer noch in der Rehaphase.

Wie immer hat der Schlagermove die Gemüter polarisiert: Für die einen ist er ein „Umzug für Vollidioten“, für andere das „schönste Fest der Liebe“ und der „norddeutsche Karneval“. Das stimmt insofern, als der Move wie auch der rheinische Karneval heute für Fans ein Ereignis ist, das jede Grenze sprengt. Erlaubt ist alles, vor allem Dinge, die zu Hause im Alltag keiner tun würde.

Siebzigjährige tragen lila Perücken, Frauen wanken kilometerweit auf Plateausohlen herum und Männer als „Biene Maja“. 350.000 Menschen röhren „Aniiita“ oder „Du kannst nicht immer 17 sein“– das ist schönste Festivalstimmung. Aber Tausende saufen auch bis zur Besinnungslosigkeit und erleichtern sich unter den Augen wildfremder Menschen zwischen Parklücken und in Hauseingängen. Das Bedürfnis nach Entgrenzung muss so groß sein, dass Feierwütige aus ganz Europa im Februar oder März an den Rhein und im Juni an die Elbe reisen, um „tolle“ Tage zu erleben – „toll“ im Sinne verrückt bis hin zu demonstrativ ausgelebten Wahnsinnsschüben. Das hat etwas mit dem Begriff „feiern“ zu tun. Der Wandel kam ganz leise.

Früher wurde etwas gefeiert wie zum Beispiel die Tage vor der langen Fastenzeit vor Ostern oder der 1. Mai oder Silvester. Inzwischen ist feiern ein Zustand, der nach 21 Uhr auch völlig ohne Bezug oder Anlass selbsttätig eintreten kann. Wer mit anderen zusammensteht und eine Flasche in der Hand hält, feiert schon.

Das Feiern ist exzessiver geworden, gerade was den Alkoholkonsum betrifft, und dauert bei den meisten Jüngeren auch länger als früher – nämlich bis zum Morgen.

Geändert haben sich auch die Folgen der Feierlaune. Für Mainz, Köln und Düsseldorf bedeutet der Karneval seit Jahrhunderten Ausnahmezustand, vor allem hinterher. Allein in Köln fielen auf der acht Kilometer langen Umzugsmeile in diesem Jahr 350 Tonnen Müll an. „Wildpinkler“, in deren Blasen es kein Halten mehr gibt, gab es wohl immer schon, aber ihre Zahl steigt: 2012 griffen Kölner Ordnungshüter 227 Beteiligte dabei auf, in diesem Jahr 402, die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Wer erwischt wird, muss bis zu 100 Euro Bußgeld zahlen.

Aber während man sich in Karnevalsstädten seit Langem auf solche Tollheiten eingestellt hat, redet man sie sich im Norden immer noch schön.

Wenn 350.000 Menschen in einem einzigen Stadtteil feiern wie am vorigen Wochenende, liegt es eigentlich auf der Hand, dass 300 aufgestellte Dixi-Klos und ein paar „Mobilzaun-Urinale“ nicht ausreichen. Wenn bei so vielen Durstigen das Glasflaschenverbot außer Kraft gesetzt ist, liegt es auf der Hand, dass die Straßen voller Scherben sind (auch wenn offenbar aus Südeuropa ganze Großfamilien angerückt waren, um Pfandflaschen einzusammeln). Gastwirte wagen sich während des Schlagermoves nur noch mit Nasenkneifern vors Lokal, Anwohner ab Mittag nur noch in festem Schuhwerk oder Gummistiefeln auf die Straße – wenn sie nicht schon vor dem ersten „Mendociiinooo!“ ins Umland geflohen sind.

Die Entgegnung „Wenn sie Events blöd finden, sollen sie doch aufs Land ziehen“ zieht nicht. Bedeutet „feiern“ zwangsläufig, Bierflaschen vor Schulen und Kindergärten zu zerschmettern und in fremde Hauseingänge zu dringen? Bedeutet es zwangsläufig den totalen Verlust der Selbstkontrolle? Ist unsere Welt heute denn entweder so stressig oder andererseits so erlebnisarm, dass Massenevents schon allein zum Ausrasten unverzichtbar werden? Diese Fragen werden wahrscheinlich noch Legionen von Soziologen beschäftigen.

Aber in der Konsequenz bedeuten sie: Kann man auf die Dauer ein solches Festival noch in Wohngebieten verantworten? Aus gutem Grund haben sich Rockfestivals auf dem Lande etabliert. Würde der Schlagermove auch nur ein einziges Mal in Eppendorf oder Barmbek stattfinden – ich wette, es wäre der letzte.