Innenpolitiker wollen sich mit dem Thema Gewalt im Fußball profilieren - dabei sollte dies zuerst eine Debatte von Vereinen und Fans sein

Mit viel Fantasie kann man dem 12.12., dem "Tag der Entscheidung", etwas Positives abgewinnen: Der Sicherheitsgipfel der 36 Bundesligisten hat eine am Ende leicht entschärfte 16-Punkte-Strategie gegen Gewalt verabschiedet, die nicht das Ende des Fußballs bedeutet. Schön auch: Der FC St. Pauli und der HSV traten in seltener Eintracht auf. Mehr Positives gibt es nicht zu vermelden; denn die Hamburger Fußballvertreter gingen mit ihrem Vorschlag einer Verschiebung des Konzeptes krachend baden, eine Beruhigung der erhitzten Gemüter war nicht mehrheitsfähig. Zu groß war der Druck, den die Politik zuvor auf die Deutsche Fußball-Liga (DFL) ausgeübt hat. Vereinsvertreter und Innenpolitiker mögen sich zwar beglückwünschen, doch viele Stadionbesucher fühlen sich vor den Kopf gestoßen.

Die Entfremdung der Fans von den Funktionären ist nicht mehr zu überhören. An den vergangenen Spieltagen schwiegen allüberall die Kurven und Geraden, die Blöcke und Ränge für exakt 12 Minuten und 12 Sekunden. Es war eine gespenstische Stille, die nicht nur von den viel kritisierten Ultras ausging, sondern von fast allen Fans mitgetragen wurde. Es war ein Schweigen, das sämtlichen Sicherheitsfanatikern in den Ohren klingen sollte.

Die Debatte lief in den vergangenen Monaten viel zu schrill. Und deshalb muss man an dieser Stelle auch einmal die Ultras, unter deren Fahnen sich zweifelsohne zu viele Knallkörper und Knallköpfe versammeln, verteidigen. Zumal die Anklage auf tönernen Füßen steht. Früher konnte man jedes Sommerloch über die Forderungen der Deutschen Polizeigewerkschaft lachen, welche die Fußballverbände für ihre Einsätze zur Kasse bitten wollten. Nun nimmt man derlei Rufe plötzlich ernst. Was populär klingt, ist vor allem populistisch. Denn die Einsätze dienen nur indirekt dem Veranstalter, der seine Ordner selbst bezahlen muss. Polizeiaufgabe ist die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rund um das Stadion. Wenn das die Bundesligisten zahlen sollen, müssten auch die Veranstalter von Dom, Hafengeburtstag und Alstervergnügen zur Kasse gebeten werden. Eine absurde Idee. Aber steter Topfen höhlt den Stein: Erstmals eignet sich dieser Unsinn, um die Bundesligavereine mit einem Steueraufkommen von 719 Millionen Euro und 18,7 Millionen Zuschauern pro Saison unter Druck zu setzen. Denn die Innenminister haben das Thema "Fußballgewalt" als Spielfeld für Profilierung entdeckt und überbieten sich mit immer schrilleren Forderungen: Stehplätze weg! Sicherheitsschleusen! Darf's noch ein bisschen mehr sein?

Gemeinsam haben sie einen Popanz aufgebaut, als seien Ultras Terroristen, Fans zwielichtige Sympathisanten, das Millerntor Mogadischu und der Volkspark der Hamburger Gazastreifen. Zweifelsohne: Das Problem mit Gewalt im Fußball hat sich verschärft, ist aber meilenweit von der Situation in den Achtziger Jahren entfernt. Nicht jeder Horrorstatistik muss man sofort glauben. Die Zahl der Vorfälle steigt auch, weil sich die Wahrnehmung verändert hat, die Sensibilität größer geworden ist. Die Bengalos, die früher mit "südländischer Begeisterung" gleichgesetzt wurden, werden wie Sprengstoffpakete dargestellt. Fliegende Bierbecher hielten viele früher am Millerntor für Kult, heute sind sie ein Fall für Sonderermittler.

Um nicht missverstanden zu werden: Nur Idioten entzünden in einer Menschenmenge 2500 Grad heiße Fackeln, nur Dummbärte werfen Dinge, nur Vollpfosten stürmen auf den Platz. Die Gewaltdebatte muss geführt werden; doch die Diskussion sollten die Vereine mit den Fans führen - und die Anhänger untereinander. Der Staat muss nicht überall hineinfunken. Es bringt auf jeden Fall mehr, wenn der Bengalo-Zündler Gegenwind aus dem eigenen Fanblock bekommt, als wenn gleich die Ordnungsmacht aufmarschiert. Wer Nacktkontrollen oder Sicherheitsschleusen in Stadien fordert, schießt nicht nur mit Kanonen auf Spatzen, sondern trifft Fankultur und Fußball ins Herz.

Manche scheint das wenig zu stören. Längst gibt es eine Mehrklassengesellschaft im Fußballstadien - Business-Logen und Stehplätze trennen Welten, einige verachten gar die "Proleten" auf den Rängen und wünschen sich englische Verhältnisse. Hier ist Fußball längst ein antiseptisch disneyland-kompatibles Entertainment. Fußball aber ist mehr, ein Stadion darf einen gesellschaftlichen Freiraum bieten, in dem Emotion und Leidenschaft noch gelebt werden dürfen. Es ist kein Zufall, dass echte britische Fans inzwischen zum Millerntor pilgern.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt