Ist es absurd, ein Problemkind zum Wanderzirkus zu geben?

Der Sinn wird sichtbar, wenn die Empörung verflogen ist: Natürlich erscheint es auf den ersten Blick befremdlich, einem durch Gewalt und Drogen traumatisierten Jungen ausgerechnet in einem Wanderzirkus so etwas wie ein geregeltes Leben nahebringen zu wollen. Doch so absurd, wie es zunächst erscheint, ist eine solche Maßnahme nicht. Vielmehr zeigt sie, vor welchen Herausforderungen Pädagogen manchmal stehen.

Man darf davon ausgehen, dass niemand ein Kind in eine solche "Maßnahme" schicken würde, das aus intakten Familienstrukturen stammt und dessen Leben lediglich kurz aus der Spur geraten ist. Bei dem jetzt vermissten Jeremie, der im Alter von neun Jahren aus seiner Familie genommen wurde und bis Dienstag gemeinsam mit einem Zirkus-Ehepaar unterwegs war, handelt es sich um einen Jungen, der in seinen ersten neun Lebensjahren offenbar kaum verlässliche Bindungen zu Erwachsenen aufbauen konnte. Aufkeimendes Vertrauen wurde offenbar immer wieder durch Gewalt, Missachtung und Vernachlässigung erstickt. Das hat den Jungen so aggressiv gemacht, dass sich am Ende kein Hamburger Träger fand, der sich in der Lage sah, den Jungen adäquat zu betreuen. Ihn in eine Wohngruppe, in ein Heim oder zu einer Familie mit Reihenhaus am Stadtrand zu geben, das schien allen Beteiligten sinnlos. Der Junge war aber nun mal da.

Dass die Wahl für die weitere Betreuung dann auf einen Wanderzirkus fiel, hat viel mit dem rustikalen Zusammenhalt zu tun, der gezwungenermaßen in solchen Strukturen zu finden ist. Sicher setzte sich auch dort niemand stundenlang mit Jeremie zum Basteln hin, sicher sang ihm abends niemand Schlaflieder vor. Aber das war sicher auch nicht das, woran es dem heute Elfjährigen am meisten gefehlt hat. Romantisches Zirkusleben existiert schon lange nicht mehr, aber es gibt in solchen "bunten Settings", wie Pädagogen sie nennen, immerhin die Möglichkeit, zu spüren, wie es ist, wenn man Teil einer Gemeinschaft ist, in der sich der eine auf den anderen verlässt. Es ist traurig, dass man bei Jeremie so niedrigschwellig ansetzen musste. Aber er ist kein Einzelfall.