Wenn die Sommerferien begonnen haben, begreift man erst wieder richtig, was man vorher alles ausgehalten hat

Eine große Stadt bedeute große Einsamkeit, hat Erasmus von Rotterdam einst befunden. Aber bei allem Respekt muss man doch feststellen, dass der große Mann noch nicht wirklich wissen konnte, wovon er sprach. Schließlich hatte das mittelalterliche Basel, in dem er damals lebte, höchstens 8000 Einwohner. Und die hätte Erasmus, ein bisschen guten Willen vorausgesetzt, ja durchaus noch alle persönlich kennenlernen können.

Egal, im Prinzip weiß man, was gemeint war. Hektik, Anonymität und so weiter. Auch wenn Erasmus von der einschlägigen Aufarbeitung des Themas durch einen Georg Simmel oder Henri Lefèbvre noch Lichtjahre entfernt war - gefühlt war er schon auf der richtigen Spur.

Umgekehrt lebt der moderne Großstadtmensch zurzeit gefühlt wieder im Basel von damals. Nehmen wir nur mal unser Leben als Autofahrer. Das hat sich mit Beginn der großen Ferien ja schlagartig entschleunigt. Trotz der aufsprießenden Baustellen gibt es so gut wie keinen Stau, keine wutentbrannt hupenden Hintermänner und auch keine Hysteriker, die vor der letzten Parklücke ausflippen.

Wenn die Sommerferien begonnen haben, begreift man erst wieder richtig, was man vorher alles ausgehalten hat. Aushalten musste! Den Mief der vollgestopften Kinos und die Schlangen an den Supermarktkassen, die sadistischen Türsteher und die pampigen Bedienungen. Auszuhalten war das alles nur dank der teflonartigen Beschichtung, die man sich im Lauf der Jahre zugelegt hat, denn in einer Großstadt gilt Darwins Gesetz.

Normalerweise ist der Großstadtmensch ja derart abgehärtet, dass er dieses endlose Stakkato von Unfreundlichkeiten gar nicht mehr wahrnimmt. Aber jetzt wird er weich.

Jetzt tritt sein schönstes Ich zutage. Touristen, die ihm unter normalen Umständen zuweilen den letzten Nerv getötet haben, werden jetzt wie froh erwartete Gäste von ihm behandelt. Geduldig erläutert ihnen der einheimische Großstadtbewohner, wie sie wo hinkommen, was sie sehen und was sie auf gar keinen Fall verpassen sollten, und dabei macht er den denkbar besten Eindruck. Auch er selbst nimmt seine Stadt jetzt quasi aus einer touristischen Perspektive wahr. Er sieht beglückt und mit neuen Augen das Typische, das Einzigartige, das, was ihn einst bewogen hat, gerade hier seine Zelte aufzuschlagen.

In den großen Ferien erholt sich die große Stadt von ihrem Dauerstress. Sie atmet durch. In diesem Ausnahmezustand ist sie das, was sie immer sein wollte und im Alltag nicht sein kann. Entspannt und aufregend zugleich. Nicht umsonst bringt man ihr um diese Zeit die schönsten Hommagen dar, und nicht umsonst gehört "Summer in the City" von The Lovin' Spoonful zu den am häufigsten gecoverten Songs der Popgeschichte.

In den Sommerferien käme niemand auf die Idee, von "den alten Menschen" zu sprechen, "die noch nicht vom unmenschlichen Lebensstil der Großstadt angefressen sind", wie es der belgische Ordenspriester und Telefonseelsorger Phil Bosmans getan hat. In den Sommerferien wird auch Theodor Fontanes Satz widerlegt, die große Stadt habe keine Zeit zum Denken und - was noch schlimmer sei - auch keine Zeit zum Glück. Im Gegenteil. In den Sommerferien ist die große Stadt ein einziges großes Versprechen.

Jenseits dieser Befunde muss man natürlich feststellen, dass nicht jeder für das Leben in der Großstadt gemacht ist. Der eine sucht angesichts der Dimensionen erschreckt das Weite, der andere fühlt sich vom Lärm aufgerieben. Der nächste kann nicht ertragen, dass er in der Masse nicht als Individuum wahrgenommen wird.

Die, die bleiben, fühlen sich herausgefordert. Sie bringen sich in Einklang mit der Größe und dem Tempo der Stadt. Sie verbringen Stunden in Schlangen und in Staus. Sie kennen jede Art von Spinnern und Idioten. Sie sind fast immer gestresst, aber sie geben sich cool.

Jetzt genießen sie ihre Erholungspause. Jetzt sind endlich große Ferien.