Das Bild vom deutschen Zahlmeister für Europa ist falsch. Wir müssen die Binnennachfrage mit höheren Löhnen ankurbeln, sagt der Gewerkschafter

Europa ist umstritten, bei vielen sogar unbeliebt. Die Zustimmung zur Europäischen Union sinkt seit Jahren. Europafeindliche Einstellungen sind weit verbreitet, in einigen Ländern schlägt sich dies bereits in Wahlergebnissen nieder.

Wen wundert's? Nicht erst seit Griechenland herrscht das Bild vor, Deutschland sei der Zahlmeister Europas. Die fleißigen und sparsamen Deutschen müssen für faule Südeuropäer einstehen, so der weitverbreitete Eindruck, der von manchen Medien geschürt wird. Deshalb sind sich auch fast alle einig: Wenn wir die (die Griechen, Iren, Portugiesen ...) schon mit unseren hart erarbeiteten Steuergroschen retten, dann sollen sie sich zukünftig bitte schön an die deutschen Tugenden halten: mehr arbeiten, weniger verdienen, weniger ausgeben.

Doch diese Sichtweise ist oberflächlich, ja falsch. Das beginnt bei einfachen Fakten - so arbeiten die angeblich so faulen Griechen in Wahrheit länger als die Deutschen - und endet beim Verschweigen von Zusammenhängen. Wen die deutschen Steuerzahler mit den Krediten für Griechenland nämlich tatsächlich retten, sind - mal wieder - die deutschen Banken. Denn sie halten einen Großteil der griechischen Staatsanleihen, die sie sonst abschreiben müssten.

Der entscheidende Fehler aber liegt in der Bigotterie der deutschen Wirtschaftspolitik. Denn einerseits verlangt Bundeskanzlerin Angela Merkel von den anderen Ländern wohlfeil den Abbau ihrer Schulden; andererseits besteht sie ungerührt auf dem extrem unausgeglichenen deutschen Wachstumsmodell. Es basiert nach wie vor fast ausschließlich auf Exporten statt auf einer starken Inlandsnachfrage.

Was die Bundeskanzlerin nicht sagt, ist: Wenn Deutschland in Europa weiter viel verkauft, aber wenig einkauft, wenn es an seinem enormem Exportüberschuss festhält, müssen andere Länder zwangsläufig einen Importüberschuss haben. Und der muss finanziert werden - durch Schulden. Die schlichte Wahrheit ist: Unsere Exportrekorde sind zwangsläufig die Schuldenrekorde der anderen, das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

Die wichtigste langfristige Maßnahme gegen die europäische Finanzkrise wäre also eine Korrektur des deutschen Wirtschaftsmodells hin zu einer stärkeren Binnennachfrage. Das verlangt im Kern einen deutlichen Anstieg der Einkommen. Die Löhne in Deutschland sind seit über zehn Jahren im europäischen Vergleich extrem zurückgefallen. Während sie hierzulande real stagnierten oder sogar fielen, sind sie in fast allen anderen EU-Ländern deutlich angestiegen. Das deutsche Wachstum beruht auf Lohndumping - nur deshalb sind unsere Produkte so billig, dass sie die Märkte überschwemmen.

Doch dieses Modell führt auf Dauer zwangsläufig zu Instabilität, zu Finanz- und Schuldenkrisen. Deshalb muss die Inlandsnachfrage in Deutschland gestärkt werden: durch höhere Löhne und durch die Korrektur lohnsenkender Faktoren wie entgrenzte Leiharbeit, Minijobs und Hartz IV auf Armutsniveau. Wir brauchen endlich einen allgemeinen Mindestlohn und das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" - bei der Leiharbeit und überall.

Doch die Bundesregierung predigt genau das Gegenteil. Nicht nur in Griechenland, sondern in der ganzen EU will sie mit ihrem "Pakt für den Euro" erneut die altbekannten "Reformen" durchsetzen: Schwächung von Flächentarifen, Lohnsenkung, Rentenkürzung, Privatisierung von Dienstleistungen, Sozialversicherung und Infrastruktur. Und das alles, damit die Länder wieder "das Vertrauen der Finanzmärkte" gewinnen - also jener Banken und Hedgefonds, die mit ihren Zockereien die ständig neuen Finanzkrisen verursachen. So offen hat man noch selten den Bock zum Gärtner gemacht.

Die Arbeitnehmer haben solche "Reformen" längst satt: Wenn die EU in ihrer Wahrnehmung nur den Wettbewerb entfesselt, Ausschreibungen gegen einheimische Unternehmen organisiert und durch die sogenannte "Liberalisierung" bei Handel und Dienstleistungen, etwa im Hafen und am Flughafen, Unsicherheit und Lohndumping befördert, wird die europäische Idee für Lohnabhängige zum Albtraum.

Sie spüren: Dieses neoliberale Gebilde ist nicht ihr Europa, sie wollen es anders. Wenn die EU zu einem "Europa der Mehrheit" werden soll, der Arbeitnehmer, des Mittelstands, der Durchschnittsverdiener und auch der Hilfebedürftigen, dann brauchen wir einen Kurswechsel. Europa hat nur eine Zukunft, wenn es wirklich für alle da ist.