Materielle Hilfe allein reicht angesichts der Misere nicht aus.

Die Historie des karibischen Inselstaates Haiti ist reich an Dramen. Doch das Jahr 2010 wird als ein besonders verheerendes in die Annalen eingehen: eines der entsetzlichsten Erdbeben der jüngeren Geschichte mit mindestens 300 000 Toten zu Beginn des Jahres, ein schlimmer Cholera-Ausbruch zu seinem Ende. Einst ein wohlhabendes Land Lateinamerikas, ist es längst das Armenhaus der Region und seine Infrastruktur in weiten Teilen zerstört.

Doch Wirbelstürme, Erdbeben und Epidemien sind nur zum Teil für das nicht enden wollende Elend der Haitianer verantwortlich. Vieles ist vom Menschen verursacht. Von den Kolonialmächten, die das Land ausplünderten, aber auch von seinen Einwohnern selber. Die Dominikanische Republik, mit der sich Haiti die Antilleninsel Hispaniola teilt, ist im Grunde den gleichen meteorologischen wie geologischen Unbilden ausgesetzt - und ist doch vergleichsweise wirtschaftlich wie politisch stabil. Haiti ist nahezu vollkommen abgeholzt, der fruchtbare Boden weitgehend erodiert. Die politische Kultur des Landes ist durch eine endlose Folge von Tyranneien und Kleptokratien über Jahrhunderte hinweg zerfressen worden. Gewalt, Korruption, Misswirtschaft und Kriminalität durchdringen praktisch alle gesellschaftlichen Strukturen; zwei Drittel der Menschen leben unter der absoluten Armutsgrenze. Todesschwadronen gehören zum Instrumentarium politischer Auseinandersetzung.

Bloße finanzielle oder materielle Unterstützung reicht hier nicht mehr aus. Haiti, "der Nachbar, den niemand haben will", wie ein lateinamerikanischer Staatspräsident einmal abfällig bemerkte, benötigt neben konkreter Hilfe zum Überleben vor allem eine massive Bildungs- und Erziehungsoffensive. Es geht um nichts weniger als darum, die Mentalität der Haitianer radikal zu verändern, die seit Jahrhunderten nichts anderes als Gewalt, Armut und Despotie erlebt haben. Es geht darum, in den Menschen, vom einfachen Bürger bis zum Staatspräsidenten, den Gemeinsinn zu wecken, den Antrieb, ihr Land gesellschaftlich wie politisch neu aufbauen zu wollen. Angesichts eines Staatspräsidenten, der erst vier Wochen nach einem entsetzlichen Erdbeben zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auftritt, um vor allem die Schäden an Regierungsgebäuden zu bejammern, darf man sich über nichts mehr wundern. Ohne eine haitianische Version von Barack Obamas "Yes we can" wird internationale Hilfe in einem sehr tiefen Fass ohne Boden einfach versickern.