Obwohl immer weniger den Präsidenten für einen “würdigen Repräsentanten“ halten, fordert ihn die Mehrheit auf, im Amt zu bleiben

Natürlich ist der Ansehensverlust dieses Bundespräsidenten einmalig: Von 67 auf 45 Prozent fiel seit Mitte Dezember die Quote der Deutschen, die ihn für einen "würdigen Repräsentanten Deutschlands" halten. Nur noch 44 Prozent bezeichnen Wulff als "moralische Autorität", für jeden Zweiten hat er "in der Affäre die Unwahrheit gesagt"; 60 Prozent sind überzeugt, dass das Staatsoberhaupt "unliebsame Berichte unterbinden wollte". Nie stand ein Bundespräsident stärker in der Kritik, nie war der ranghöchste Mann im Staate weniger glaubwürdig, vertrauensvoll, moralische Instanz als Wulff.

Dennoch will die Mehrheit der Bürger diesen Präsidenten nicht weghaben! Selbst auf dem Tiefpunkt seines Ansehens, nach dem Disput um die "Bild"-Telefonate, forderten 52 Prozent Wulff auf, im Amt zu bleiben. Wie passt das zusammen?

Umfragen ergeben: Den Deutschen ist nicht wohl bei der medialen Anprangerung ihres Staatsoberhauptes angesichts der bisherigen Deliktlage. Die bedeutet für viele noch nicht das endgültige Aus: Sechs von zehn wollen ihm eine zweite Chance gewähren. Möglicherweise entwickelt sich ein Solidarisierungseffekt mit dem "Bundespräsidenten, der aus dem Volke kam". Möglicherweise haben Gutbürger mit dem Wulff-Bashing übertrieben. Wulff gefährde die Pressefreiheit? Und sei korrupt? So richtig wollen das die Bürger nicht glauben.

Je länger die Krise dauert, je minimierter die "aufgedeckten" Vergehen werden, je klarer Wulffs Signal, am Amt festzuhalten, und je häufiger sich auch Gegenmeinungen artikulieren, desto häufiger kommen den Deutschen Zweifel am einstimmigen Medientenor.

Vier Argumente könnten die Wulff-Wende einläuten:

1. Die Delikte: Die juristisch unbedenklichen Freundschaftskredite, kostenfreie Ferienunterkünfte oder Mediendispute kritisiert nur eine Minderheit. Fast jeder würde sich ähnlich verhalten. Vorgeworfen wird seine Kommunikation, seine Salamitaktik. Doch irgendwann ist zu Ende veröffentlicht. Irgendwann werden die Vorwürfe zur Kampagne. Immer mehr Deutsche fragen: "Was hat Wulff eigentlich getan?"

2. Viele Jetztkläger sind Steuerschummler, Falschparker, Schnellfahrer, Schnorrer, Rabatt-Redakteure, die ihre eigenen Unzulänglichkeiten kennen: Mehr als die Hälfte mogelt schon mal bei Steuererklärungen, macht blau, sagt bewusst die Unwahrheit.

3. Die Vorwürfe laufen sich tot: Nach der Weihnachtsruhe ängstigen uns wieder Euro- und Finanzkrise, Globalisierungsgefahr, klamme Kassen und Alterspyramide weit mehr als Wulffs Amtsanmaßungen. Die Vorwürfe müssen Wucht entfalten, derzeit minimieren sie sich.

4. 57 Prozent glauben, die Medien wollten Wulff "fertigmachen". Gerade entsteht ein Solidarisierungseffekt mit einem eher harmlos wirkenden Präsidenten gegen eine als vielfach gnadenlos empfundene Presse. 60 Prozent wollen einem Präsidenten eine zweite Chance gewähren, der vor einem Monat noch Zufriedenheitswerte auf der Höhe der Amtsvorgänger besaß und vertrauensvoller als Angela Merkel galt. Und da ist die Angst, dass kaum mehr kompetente Politiker unter diesem starken Mediendruck öffentliche Ämter bekleiden wollen.

Natürlich ist Wulffs Verhalten keines Staatsoberhauptes würdig. Was aber, wenn der Bundespräsident gesagt hätte: "Ja, natürlich lege ich Einkünfte, Kredite, Übernachtungen offen - aber nur denjenigen, die Gleiches tun!" Die Kakofonie der Vorwürfe vieler Gutbürger wäre dann schlagartig unterbunden worden.

Wulff hat zudem Pech, dass Politiker grundsätzlich am unteren Ende der Vertrauensskala - nicht weit von den Journalisten entfernt - rangieren. Und seine Causa in eine Zeit fällt, in der Kompetenz wenig zählt, Glaubwürdigkeit und Vertrauen dagegen alles. Weil es in einer globalisierten und fragmentierten Welt kein "richtig" oder "falsch" mehr gibt, ist für 95 Prozent der Deutschen Vertrauen die wichtigste Politikerwährung, weit bedeutender als zu Zeiten von Johannes Rau.

Andererseits: Nie verlangte es die Deutschen stärker nach Fairness, nach Strafe - aber auch eine zweite Chance -, nach Buße - aber auch Vergeben. Diese Fairness erfährt der Bundespräsident zurzeit nicht. Deshalb fordert die Mehrheit nicht nur: "Weitermachen!" 60 Prozent der Deutschen prognostizieren derzeit auch: "Er wird weitermachen!"