Furcht vor sozialem Abstieg droht die bürgerliche Mitte zu lähmen.

Studien werden im politischen Berlin täglich dutzendfach veröffentlicht. Viele gehen unter oder fallen nach kurzen Schlagzeilen dem Vergessen anheim. Die jüngste Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aber sollten die Koalitionäre genau lesen, zumal das Wirtschaftsministerium das DIW zur Hälfte finanziert: In der deutschen Mittelschicht bilden sich Risse, die Gesellschaft driftet auseinander. Der Anteil der Armen hat sich im vergangenen Jahrzehnt von 18 auf fast 22 Prozent vergrößert, der der Wohlhabenden ist auf mehr als 16 Prozent gestiegen. Auch wenn das Phänomen global auftritt und der Begriff Armut in einem reichen Land immer relativ ist, muss die Entwicklung Wirtschaft, Gesellschaft und Politik alarmieren.

Die Mittelschicht schrumpft beständig, seit 2000 um bis zu fünf Prozentpunkte. Dieser Prozess schürt in der Mitte der Gesellschaft die Angst vor dem sozialen Abstieg und kann das Land lähmen: Wer Angst hat, kauft kein Haus, gründet keine Firma, zeugt keine Kinder. Wer Angst hat, entfremdet sich von Staat und Gesellschaft. Wer Angst hat, wendet den Volksparteien den Rücken zu und fällt leichter auf Populisten herein. Diese Angst frisst die Seele des Landes auf.

Die Mittelschicht ist nicht nur Rückgrat und Finanzier der sozialen Marktwirtschaft, sie bildet auch den Kitt der Gesellschaft, sie verbindet als Scharnier oben und unten. Mit ihrem Schrumpfen schwindet die integrative Kraft der Mitte, die Ränder entfremden sich von der Gesellschaft, Kriminalität und Entsolidarisierung greifen um sich. Es drohen, was der Soziologe Ulrich Beck einst die "Brasilianisierung des Westens" genannt hat, Zustände wie in der Dritten Welt.

Vor diesem Hintergrund erscheint das jüngste schwarz-gelbe Sparpaket in einem noch fahleren Licht. So berechtigt viele Einzelpunkte auch sind, unter dem Strich fehlt die soziale Ausgewogenheit. Anders als früher schrecken Sozialkürzungen heute die Mittelschicht, wenn diese fürchten muss, morgen selbst von Transfers abhängig zu sein. Es ist das Drama dieser Koalition der "bürgerlichen Mitte", dass sie den Bezug zur Mitte der Gesellschaft zu verlieren scheint. Einer aktuellen Allensbach-Umfrage zufolge sind 92 Prozent der Führungskräfte unzufrieden mit Schwarz-Gelb. Gerade die FDP, einst angetreten als Anwalt der Leistungsträger, begnügt sich mit tumber Klientelpolitik für Hoteliers oder Spitzenverdiener. Dabei wäre das Gegenteil das Gebot der Stunde: ein Spar- und Wachstumspaket, das neben Zumutungen für alle auch Anreize für alle bereithält - und endlich ein Signal des Aufbruchs statt des Abbruchs sendet.