Joschka Fischer war der erste grüne Minister, Winfried Kretschmann ist der erste grüne Ministerpräsident. Er sagt, das Amt sei zu ihm gekommen, nicht umgekehrt

Sie sind ein Jahrgang. Und weil sie beide aus Baden-Württemberg stammen, sind sie sich bei den Grünen irgendwann zwangsläufig über den Weg gelaufen. Ein paar Monate lang hat Winfried Kretschmann Joschka Fischer sogar gedient. Als Grundsatzreferent im Wiesbadener Umweltministerium. In Fischers Turnschuhzeit. Beide Männer sagen von sich, dass sie in den 68er-Jahren sozialisiert worden sind, beide gelten trotz ihrer frühen Ausflüge zu radikalen politischen Gruppierungen in ihrer Partei als Realos. Aber da hören die Gemeinsamkeiten dann auch schon auf.

Kann man sich Fischer in einem Schützenverein oder im Zentralkomitee der deutschen Katholiken vorstellen? Wohl kaum. Kretschmann als Steinewerfer? Eher nicht. Trotzdem muss Kretschmann (noch) damit leben, dass man ihn pausenlos auf Fischer anspricht, weil er als erster Grüner nach Joschka Fischer eine politische Sensation geschafft hat. Aber während dem einstigen Landes- und späteren Außenminister bereits ein kolossales Denkmal gesetzt wird - Pepe Danquarts Zweieinhalb-Stunden-Dokumentation "Joschka und Herr Fischer" kommt nächste Woche in die Kinos -, startet Kretschmann mit 62 zum ersten Mal richtig durch. Als erster grüner Ministerpräsident Deutschlands, gut 30 Jahre, nachdem er die Partei der Grünen in Baden-Württemberg mitbegründet hat. Fischer fuhr damals noch Taxi in Frankfurt.

Auch Kretschmann ist also offenbar ein Marathonmann, allerdings auf andere Weise als Fischer, der das Langstreckenlaufen bekanntlich nur kurzfristig betrieben hat. Und während Fischer die Ungeduld zuweilen aus allen Knopflöchern guckte, gilt Winfried Kretschmann als einer, der bereit ist, dicke Bretter zu bohren. Er selbst beschreibt den Unterschied zwischen sich und Fischer so: "Ich war immer der Meinung, das Amt muss zum Mann kommen, und das war bei mir eben erst jetzt der Fall. Der Joschka war immer einer, der zum Amt gestrebt ist." Taktvollerweise nimmt "Kretsch", wie ihn seine politischen Weggefährten nennen, das Wort Ehrgeiz in diesem Zusammenhang nicht in den Mund. Höflich wie er ist, hat er sich in den zurückliegenden Tagen auch den Satz abringen lassen, dass er es gut fände, wenn der einstige Star der Grünen in die Politik zurückkehren würde. Weil Kretschmann aus seinem Herzen aber keine Mördergrube machen konnte, hat er ehrlicherweise hinzugefügt, dass er sich nicht vorstellen könne, dass Fischer das wolle.

Die Wochenzeitung "Die Zeit" hat Winfried Kretschmann den "wichtigsten Hoffnungsträger der Grünen seit Joschka Fischer" genannt. Diesen eher stillen Mann, der im Schlichtungsverfahren um das umstrittene "Stuttgart 21"-Projekt bundesweit erstmals richtig wahrgenommen wurde und der nun für eine "Politik des Gehörtwerdens" stehen will.

Bei Fischer ging's auch ums Gehörtwerden, aber doch deutlich egoistischer. Der Ex-Außenminister hat ja nach seinem Abgang nicht ganz zu Unrecht von sich behauptet, "der letzte Rock 'n' Roller der deutschen Politik" gewesen zu sein. Und Bescheidenheit ist auch nicht gerade die hervorstechendste Tugend des Metzgersohns aus Gerabronn gewesen, der in Danquarts Film sagt, dass er seiner Partei zwar "unendlich" viel verdanke, sich aber auch an ihr erschöpft habe; dass er froh sei, seine Freiheit wiederzuhaben und endlich nicht mehr abhängig zu sein.

Joschka Fischer ist Mitte der Achtzigerjahre 14 Monate lang Umweltminister gewesen. Zu Anfang sei der Adrenalinschub fantastisch gewesen, sagt er rückblickend: "Du siehst dich überall!" Aber dann habe er immer mehr den enormen Druck gespürt. Von außen auch, aber vor allem aus den Reihen der eigenen Partei, die sich von ihrem ersten Minister politische Wunder erwartet habe. Vornehmlich in der Atompolitik. Über seine Erfahrungen in dieser Zeit hat Fischer anschließend ein Buch mit dem vielsagenden Titel "Regieren geht über Studieren" veröffentlicht. Aus dem konnte man auch eine Menge Frustration herauslesen.

Die wird Winfried Kretschmann in der vor ihm liegenden Legislatur möglicherweise auch nicht erspart bleiben, aber eins hat sich zu seinem Glück in den zurückliegenden 25 Jahren verändert: Wunder erwarten sich die Grünen von ihren Spitzenpolitikern heute keine mehr.