Ein NDR-Film erzählt die Geschichte eines ehemaligen DDR-Grenzsoldaten, der an seiner verdrängten Schuld zu zerbrechen droht.

Hamburg. Im August jährt sich der Bau der Berliner Mauer zum 50. Mal. Etliche TV-Dokumentationen und Filme beschäftigen sich in den kommenden Tagen mit der Vergangenheitsbewältigung deutscher Geschichte und den menschlichen Dramen rund um das monströse Bauwerk des DDR-Regimes. Einen besonders bewegenden Beitrag liefert der NDR in Zusammenarbeit mit dem Kultursender Arte: In "Der Mauerschütze" droht ein ehemaliger DDR-Grenzsoldat 20 Jahre nach dem Fall der Mauer an seiner Schuld zu zerbrechen.

Verdrängen, anstatt sich der Verantwortung zu stellen: Bei Stefan Kortmann (Benno Fürmann) hat das jahrelang gut geklappt. Der 40-Jährige ist ein angesehener Arzt auf der Krebsstation eines Hannoveraner Krankenhauses, hat eine hübsche Freundin, ein geordnetes Leben. Doch eines Tages wird ihm klar, dass dies nur Fassade ist. Nachts wandelt er durch die kühlen Klinikflure, wühlt sich durch Krankenakten, anstatt nach Hause zu gehen. Seine Vergangenheit holt ihn ein. "Ich habe mich all die Zeit nur vor mir selbst versteckt", gesteht er seiner Freundin eines Morgens und erzählt ihr erstmals seine ganze Geschichte: Wie er vor 20 Jahren in der DDR als NVA-Soldat gedient und die Schießbefehle anderer ausgeführt hat, um sich das Medizinstudium zu ermöglichen. Wie eines Nachts im Jahr 1988 ein Paar versucht, über die deutsch-deutsche Grenze in den Westen zu flüchten. Und der junge Soldat schießen muss. Er tötet den Flüchtling. Dessen schwangere Frau überlebt schwer verletzt.

20 Jahre nach dieser Tat wird dem Arzt von seinem jungen Patienten Paul (Max Hegewald), der auf den Tod wartet, die entscheidende Frage gestellt: "Was würdest du tun, wenn du nicht mehr lange zu leben hättest?"

Der Mediziner bricht daraufhin aus seinem verlogenen Alltag aus und reist von Schuldgefühlen getrieben nach Usedom, um die nichts ahnende Frau des erschossenen Mannes zu suchen - und sich ihr 20 Jahre nach der Tat zu erklären. Silke Strehlow (Annika Kuhl) ist mittlerweile 38, arbeitet auf einem Fischkutter und betreibt mit ihrer Teenietochter eine kleine Pension. Dort quartiert sich Kortmann gemeinsam mit seinem todgeweihten Patienten ein. Zwischen der Pensionsbesitzerin und dem Mediziner entwickelt sich mit der Zeit eine tragische Liebesgeschichte, in der der ehemalige Grenzsoldat lange Zeit nicht den Mut hat, der Witwe die Wahrheit ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen.

In dem intensiven und brillant gespielten Kammerspiel von Regisseur Jan Ruzicka ("Großstadtrevier") geht es nicht nur um die Frage nach Schuld und Sühne, sondern es behandelt zudem ein in der Masse der DDR-Verfilmungen vergangener Jahre kaum beachtetes Thema: die undenkbare Wiederbegegnung von Täter und Opfer. Das Psychogramm eines Soldaten, der sich nach all den Jahren mit seinen Opfern aussprechen will, ist spannend und berührend zugleich.

Der gebürtige Leipziger Ruzicka war selbst anderthalb Jahre Soldat bei der Nationalen Volksarmee. Auch wenn er nicht an der Grenze eingesetzt wurde, gibt es doch "ein paar Schnittpunkte mit meiner Biografie", sagt der Regisseur. Drei Jahre lang hatte Drehbuchautor Hermann Kirchmann mit seinen Kollegen Scarlett Kleint und Alfred Roesler-Kleint für den fiktionalen, 1,5 Millionen Euro teuren Film recherchiert. Sie sprachen mit Tätern und wälzten Unterlagen von Mauerschützen-Prozessen. 246 Soldaten und Funktionäre wurden in der Zeit zwischen 1991 und 2004 angeklagt. Die Todesschützen kamen in den meisten Fällen mit Bewährungsstrafen davon.

Die Konstellation, dass sich ein Täter wie Stefan Kortmann im Film seiner Vergangenheit stellt und den Kontakt zum Opfer sucht, ist Kirchmann während seiner Recherchen nicht begegnet. "Ich hatte eher den Eindruck, dass die Täter von damals die Vergangenheit verdrängen, als sich ihr zu stellen", sagt Autor Kirchmann.

Mit den juristischen Folgen für die DDR-Mauerschützen, den Fakten und Ereignissen am "Todeszaun" beschäftigt sich Jan Ruzickas Drama nur am Rande. Im Fokus stehen die Liebesgeschichte und die Schuldfrage, deren Dramatik keiner Seitenstränge bedarf. So hätte man auch auf das Krebsdrama des jungen Patienten, der sich in die Tochter der Witwe verliebt, verzichten können.

Wie jedoch die zwei Teenies, die die Mauer nie erlebt haben, mit den Ereignissen umgehen, ist klug in das Drehbuch eingearbeitet und bietet eine unbedarfte Sicht auf die Dinge, in der es nicht mehr um Schuldfragen, sondern um Neuanfang geht. Etwa als die Witwe ihrer Tochter von jener Nacht erzählt, in der ihr Mann erschossen wurde, und sie sich Vorwürfe macht, weil sie ihn zur Flucht in den Westen gedrängt hat. "Wen interessieren denn die alten Geschichten noch?", entgegnet die Tochter tröstend.

Der Mauerschütze Mi 3.8. ARD 20.15