Hamburg. „Wir fuhren mit einem Schnellboot los, um die Menschen auf einem zuvor gesichteten Flüchtlingsboot zu beruhigen und zu unterstützen. Als wir am Flüchtlingsboot ankamen und zu helfen beginnen wollten, waren wir circa 15 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt. Auf einmal kam ein Boot der libyschen Küstenwache und versuchte das Flüchtlingsboot mit Knüppeln und Stöcken zu entern.
Aufgrund dessen begann das Flüchtlingsboot, das wie alle Flüchtlingsboote überladen war, zu kentern. 150 Menschen fielen ins Meer, 30 von ihnen ertranken. Vier Leichen wurden geborgen, vier bewusstlose Personen wurden auf der „Sea-Watch 2“ behandelt. Wir zeigten die Küstenwache daraufhin an.
Dies war eines der schlimmsten Erlebnisse für Ingo Werth. Der Hamburger ist Einsatzleiter einer Crew der „Sea-Watch 2“ und verantwortlich für Rettungseinsätze im Mittelmeer. Als Skipper muss er entscheiden, welches Flüchtlingsboot gerettet wird. Er muss auch darauf achten, dass keine Gefahr für die Crew besteht. Für das Hamburger Abendblatt hat Nachwuchsreporter Anton Wempner mit Ingo Werth über seine Arbeit gesprochen.
Was ist die Aufgabe von Sea Watch?
Ingo Werth: Das Suchen, das Finden und das Retten von Menschen auf Flüchtlingsbooten.
Wie ist euer Team zusammengestellt?
Einmal aus Nautikern, also Leuten, die das Schiff fahren, dann aus Technikern, das sind die, die das Schiff in Schuss halten und reparieren, aus Ärztinnen und Ärzten, weiter aus Journalistinnen und Journalisten und denen, die ganz normal an Deck arbeiten. Dazu kommen die, die die Schnellboote fahren, insgesamt sind wir etwa 15 bis 16 Leute.
Von wem wird das Schiff und die Besatzung bezahlt?
Alles wird aus Spendengeldern bezahlt. Die Ausrüstung, Transportkosten, zum Teil An- und Abreisen, auch die Kosten von dem Team, das an Land das Schiff versorgt.
Wie und wo findet ihr die Flüchtlingsboote?
Es gibt zwei Möglichkeiten: die eine ist über die Seenotrettungsstelle in Rom. Die rufen bei uns auf dem Schiff an und geben uns die Position des Flüchtlingsbootes durch. Sie fordern uns auf dahinzufahren. Die zweite Möglichkeit, und das ist so in 70 Prozent aller Fälle, das wir mit Ferngläsern die Boote entdecken. Es sind immer zwei Leute im Ausguck an Deck, die mit Ferngläsern den Horizont absuchen und Alarm schlagen, sobald sie eins gesehen haben. Dann fahren wir da hin.
Wie rettet ihr die Menschen?
Wir nähern uns mit dem großen Schiff bis auf ungefähr 500 Meter. Dann setzen wir mit dem Kran unsere beiden Schnellboote ins Wasser. Die fahren dann zu den Flüchtlingsbooten hin und umkreisen sie zwei- bis dreimal. Sie stellen die Crew vor, sagen, dass sie helfen wollen und Ärzte aus Deutschland an Bord haben. Sie erkundigen sich, ob Kranke, Verletzte oder auch Tote auf den Booten sind. Das melden sie dann an uns auf dem Mutterschiff, sodass wir wissen, was auf uns zukommt. Das zweite Schnellboot liefert an das Flüchtlingsboot die Rettungswesten. Sobald alle die Rettungswesten erhalten haben, bergen wir die Leute. Wenn die Situation völlig ruhig ist, nehmen wir das Flüchtlingsboot längsseits und helfen den Menschen, auf die „Sea-Watch 2“ zu kommen.
Warum sind so viele Menschen auf der Flucht?
Weil sie entweder vor Krieg fliehen, so wie in Syrien und im Irak, oder sie sind vertrieben worden aus ihren Heimatländern, oder sie werden politisch und religiös verfolgt, beispielsweise vom sogenannten Islamischen Staat. Manche leben auch in völliger Armut. An dieser Armut sind zum Teil wir Europäer mit Schuld, weil zum Beispiel vor den Küsten Senegals, Mauretaniens und Somalias den Menschen die Fische weggefischt werden, sodass sie dort nichts mehr zu essen haben.
Was passiert mit denen, die ihr nicht aufnehmen könnt?
Wir können ungefähr 300 Leute von zwei oder drei Flüchtlingsbooten unterbringen. Wenn mehr Boote um uns herum sind, nehmen wir aus jedem Boot 30 bis 35 Menschen an Bord, um die Boote zu entlasten. Wir nehmen Frauen, Kinder und auch Tote raus. Die anderen auf den Booten lassen wir nicht allein, sondern fordern Hilfe an.
Wie viele habt ihr schon gerettet?
Sea-Watch war bisher an der Rettung von ungefähr 20.000 Menschen beteiligt.
Was passiert mit den Menschen, die ihr gerettet habt?
Wenn wir sie mit Schwimmwesten versorgt oder sie auf unser Schiff in Sicherheit gebracht haben, warten wir auf ein Transportschiff, das so groß ist, dass es die Menschen aufnehmen und nach Sizilien bringen kann.
Wie viele von den Flüchtenden sind schon ertrunken?
Offiziell sind es 4600 Menschen, die 2016 ertrunken sind. Ich gehe davon aus, dass in Wirklichkeit mindestens doppelt so viele Menschen ertrunken sind. Die, die untergehen, sind einfach weg. Keiner zählt sie.
Gab es auch ein schönes Erlebnis?
Ja. Wenn wir Gäste an Bord genommen hatten, die völlig fertig waren, die kaum noch auf die Beine kamen, aber dann, nach ein paar Stunden unser Schiff mit einem Lächeln verließen. Ein wunderschönes Erlebnis.
Bekommt ihr Unterstützung von den Regierungen in Deutschland und Europa?
Ja, aber längst nicht ausreichend. Wenn unser Schiff voll ist, nehmen uns Frontex-Schiffe von der europäischen Grenzsicherung oder Kriegsschiffe die Menschen ab und bringen sie an Land. Aber wir erhalten keine finanzielle Unterstützung. Das wollen wir auch nicht. Wir wollen unabhängig sein. Das können wir nur, wenn wir nicht von Staaten Geld beziehen und uns dafür in einer bestimmten Art und Weise verhalten sollen. Wir kritisieren die europäischen Regierungen, denn wir wollen, dass Flüchtlinge sichere Fluchtwege haben, dass keine Flüchtlinge mehr übers Meer kommen und ertrinken müssen.
Wie können wir Schüler euch unterstützen?
Wir finden es toll, wenn unsere Idee an Schulen verbreitet und darüber gesprochen wird, wenn Plakate aufgehängt und Flyer ausgelegt werden. Neulich hat eine Schulklasse einen Benefizlauf veranstaltet und das Geld für jede gelaufene Runde für die Seenotrettung gespendet. Ich halte es für wichtig, dass viele Leute erfahren, dass Jahr für Jahr Tausende Menschen jämmerlich umkommen, weil Europa seine Grenzen dicht macht.
Vielen Dank für dieses Interview an Ingo Werth und ebenso an alle „Sea-Watch“-Mitglieder, die die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten.
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