Die diesjährigen Ostertöne balancierten erfolgreich auf dem schmalen Grat zwischen Klang und Verstummen, zwischen Knurren und Winseln.

Hamburg. Das Stück liegt ihr besonders am Herzen, ganz klar. Denn bevor sie zur gefragten Solistin wurde, hat Christiane Karg das "Deutsche Requiem" von Brahms häufig im Chor mitgesungen. So ist über viele Jahre eine innige Verbindung entstanden. Und die war beim Eröffnungskonzert der Ostertöne am Karfreitag in der Laeiszhalle deutlich zu spüren. Wunderbar ihre zarten, gedeckten Farben, mit denen sie die Sopranlinie im fünften Satz ausleuchtete. Auch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und der NDR Chor betörten unter der Leitung von Jérémie Rhorer vor allem in den leisen bis sehr leisen Passagen; alles Laute wirkte dagegen schnell indifferent.

Damit schlug bereits der Auftakt einen Grundton an, der das gesamte Festival prägen sollte. Denn die Ostertöne 2011 standen oft im Zeichen der Stille. Und die spielt auch im Schaffen von José María Sánchez-Verdú eine zentrale Rolle. Die Werke des 43 Jahre alten Spaniers - diesjähriger "Composer in Residence" - springen oder gar brüllen den Hörer niemals an, sondern flüstern ihm ins Ohr. Wie etwa das Akkordeonstück "Arquitecturas del silencio", mit dem sein Porträtkonzert im kleinen Saal der Laeiszhalle begann. Dieses balancierte mit stockenden Bewegungen, fast unhörbar leisen Geräuschen und vielen Pausen auf dem schmalen Grat zwischen Klang und Verstummen. Eine Musik wie Bleistiftschraffuren auf Pergamentpapier. Jeder einzelne Ton ein fragiles Gebilde auf der Goldwaage des Interpreten.

Unter den Händen von Inigo Aizpiolea entfalteten diese zerbrechlichen Gesten jedoch eine ungeahnte Kraft: Da er jeden noch so feinen Hauch, jede kleine Zäsur mit Spannung füllte, schien es plötzlich, als könne er die Zeit anhalten oder sie wenigstens für einen Moment langsamer fließen lassen. Eine wohltuende Resensibilisierungskur für das vollgelärmte Trommelfell des Großstadtmenschen.

Nach zwei Stücken für Gitarrenquartett erreichten die Ostertöne mit der Uraufführung von Sánchez-Verdús "Scriptura Antiqua" durch die Neuen Vocalsolisten Stuttgart einen weiteren Höhepunkt. Der Komponist verlangte hier eine riesige Bandbreite menschlicher Laute, vom knarzenden Knurren über Hecheln und Winseln bis zum ekstatischen Stöhnen - und die fünf Sänger demonstrierten dabei nicht bloß ihre sensationelle Stimmbeherrschung, sondern offenbarten auch die eigentümliche Sinnlichkeit der Klänge. Ja, diese Werke sind auf ihre Art auch unglaublich schön. Alleine dafür hat es sich gelohnt, auf ein paar Ostereier zu verzichten und stattdessen musikalische Nüsse zu knacken.

Mit der allmählichen Steigerung vom Akkordeon über ein Gitarrenquartett bis zum Vokalensemble hatte das Porträtkonzert einen stimmigen Bogen. Bei der Feinabstimmung solcher Abläufe profitiert Intendantin Simone Young merklich vom dramaturgischen Gespür ihrer Projektleiterin Katrin Zagrosek, das sich auch in der Gesamtkonzeption des Festivals niederschlägt. Das Miteinander von "Brahms und Moderne" ist schließlich wohlkalkuliert. Ein musikalischer Platzhirsch mit dröhnender Tonsprache könnte neben Brahms kaum bestehen. Da bestünde die Gefahr, dass sich die beiden gegenseitig erdrücken wie große Gemälde, die zu nahe beieinander hängen. Aber Sánchez-Verdú beengt Brahms nicht, im Gegenteil: Seine oft asketischen Klangkalligrafien mit ihren bewussten Leerstellen eröffnen neue Räume.

Die wurden bei den Ostertönen häufig vom Jerusalem Quartet gefüllt: In drei Konzerten widmete sich das israelische Residenzensemble zentralen Werken der Brahmsschen Kammermusik. Interessanterweise wirkten die vier Streicher immer dann besonders inspiriert, wenn noch ein fünfter Mann mit von der Partie war: Im Klavierquintett oder dem späten (aber wunderbar jugendfrischen) Streichquintett op. 111 verströmten sie eine Leidenschaft und Farbpracht, die man bei den Quartetten über weite Strecken vermisste.

Auch Mischa Maisky und Julian Rachlin hätten durchaus noch feuriger zur Sache gehen dürfen. Sie waren die Solisten des Doppelkonzerts von Brahms, das Simone Young mit ihren Philharmonikern begleitete. Zuvor hatte Young zwei Orchesterwerke von Sánchez-Verdú dirigiert, darunter seine exotisch angehauchten "Paisajes del placer y de la culpa". Aber im großen Saal ist seine Musik doch stark gefährdet. Da waren zu viele Hustattacken und andere Störgeräusche zu hören. Am besten kommen die empfindlichen Hörkonzentrate wohl im Schutzraum der Kammermusik zur Geltung. Dort, wo die Stille zu Hause ist.

Dass viele der Konzerte trotz Rekordwetters augenscheinlich besser besucht waren als im letzten Jahr, spricht für das mutige Konzept des Festivals. Es geht auch ohne großen Glamourfaktor, wenn man starke Ideen und viel Geduld hat. Bei den Ostertönen 2012 ist Isabel Mundry als Composer in Residence zu Gast. Außerdem gibt es ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten: Simone Young hat unter anderen ihren Vorgänger Ingo Metzmacher nach Hamburg eingeladen.