Dandy, Spitzbube, Poet: Deutschlands wichtigster Popmusiker Jochen Distelmeyer spielt heute Abend im Thalia-Theater. Eine Begegnung.

Hamburg. Ein Restaurant im Karolinenviertel, es befindet sich im Hinterhof. An einem Anschlagbrett steht hinter Glas, was es hier sonst noch gibt. Der Mann auf einem Yoga-Plakat trägt einen Anzug. Der Popsänger Jochen Distelmeyer ebenfalls. Heute gibt er ein Konzert im Thalia-Theater.

Distelmeyer ist eine asketische Erscheinung: schlank und hoch gewachsen, dandyesk und spitzbübisch. Er trägt die Haare länger, sie fallen ihm oft ins fein geschnittene Gesicht. Während draußen eine Bohrmaschine röhrt, nimmt er Platz. Das Fenster schließt er, nicht ohne vorher gefragt zu haben, ob das okay sei. Dann entledigt er sich des dunkelblauen Übergangsmantels und der Sonnenbrille, und während man sein Diktiergerät aus der Tasche friemelt, fühlt sich die Stille im Raum nicht unbedingt angenehm an.

Also sagt man etwas. Irgendetwas.

Und zwar: "Vielleicht gibt es jetzt, wo außer dem Konzert nichts ansteht, mal die Möglichkeit, einfach zu plaudern." Es gibt Wörter, die fühlen sich schon falsch an, während man sie ausspricht. "Plaudern" ist so ein Wort, es klingt nach Smalltalk. Mit Distelmeyer macht man das eher nicht. Jochen Distelmeyer, Jahrgang 1967, ist Deutschlands wichtigster Popmusiker, und er ist ein Mann, der das, was er sagt, wichtig nimmt. Was bedeutet, dass er auch genau zuhört, wenn ihn Journalisten etwas fragen oder Vermutungen anstellen. Deshalb sind Gespräche mit ihm ein bisschen wie Prüfungen: Man muss nicht gut vorbereitet sein, sondern sehr gut. Sie sind eine Herausforderung.

Am Tag vorher war er noch im Zug, wo war er denn? "Nichts Besonderes, ich bin einfach nur von A nach B gereist", sagt Distelmeyer und schaut dabei ganz freundlich.

O. k. Besser eine andere Frage: Wie gestaltet sich der künstlerische Alltag für den Solomusiker vier Jahre nach dem Ende seiner Band Blumfeld?

Distelmeyer lehnt sich zurück, überlegt. Pause. Kein Plaudern.

Er pumpt Luft in seine Wangen, das wird er im Verlaufe des Gesprächs öfter machen. "Häufig ist die Musik schon da, Abläufe von Songstrukturen. Bevor der Text da ist", sagt er. Die Haut über den Mundwinkeln hebt und senkt sich rasend schnell. Distelmeyer zu interviewen ist so, als befrage man einen Fuchs. Der ist klug. Aber auch listig, scheu, mitunter angriffslustig.

Dann sagt er etwas, das so gut ist, dass es beruhigend wirkt: "Wenn ich vorab die Melodie habe, vertraue ich darauf, dass es nur eine Geschichte dazu geben kann. Welche, das weiß die Musik". Distelmeyer lauscht den Klängen also die Worte ab. Und der generelle Impuls, Songs zu schreiben, hat der sich gewandelt? Im Vergleich zu 1991, als "Ghettowelt", die erste Blumfeld-Single, erschien mit im Stakkato proklamierten Zeilen wie "Baut eine Mauer um mich herum"? "Ich würde sagen, dass das immer noch der gleiche Impuls ist, dem man da folgt", sagt er. "Ein Grundvertrauen, in eine innere Stimme und in die Art, wie man sich mit dem, was einen umgibt, in Beziehung setzt."

Das Restaurant füllt sich, die Menschen aus den Büros haben jetzt Mittagspause. Am Nebentisch wird Schweinefilet bestellt, Distelmeyer sagt: "Ich glaube, man kann im Zuge der wirtschaftlichen Depression der letzten Jahre schon feststellen, dass Kunstproduktion oder Kultur generell nicht mehr den Stellenwert genießt wie früher und gesellschaftliches Vertrauen eingebüßt hat. Das kann man an Sparbeschlüssen des Senats hier in Hamburg sehen, die es noch vor wenigen Monaten gab."

Dann liefert Distelmeyer, unaufgefordert, eine Komplettinterpretation seines Solodebüts "Heavy". Er, der Journalisten schon häufiger darauf verwies, sich bitte selbst einen Reim auf seine Songs zu machen. "Ich habe den Eindruck, dass Entwicklungen, die derzeit beobachtbar sind, von 'Heavy' immer noch sehr gut abgebildet werden: Es ging ja darum, wie der ökonomische Druck nach dem 11. September und die damit folgerichtig eintretende Wirtschaftskrise, wie diese spürbaren Enttäuschungen, Desillusionierungen, Vertrauensverluste in die imperiale Vormachtstellung dieses großen amerikanischen Reiches und seiner Kulturproduktion, der Traumfabriken, denen die Zuschauer weglaufen - wie also diese Situation künstlerisch verhandelt wird." Guter Satz. Und lang ist er.

Ein Song auf "Heavy" heißt "Wohin mit dem Hass?", und der Hass ist in Form seiner kleinen Schwester, der Wut, zuletzt ein Phänomen gewesen in Deutschland. Stuttgart 21 und die Wutbürger, Fukushima und die deutschen Atomprotestler: Distelmeyer wägt ab, lehnt sich auf seiner Sitzbank zurück, legt dann los, gestenreich. Die Wange pumpt. "Der Protest ist zunächst ein vollkommen probates Mittel der politischen Artikulation. Ich bin kein Experte, aber man kann schon den Eindruck haben, dass da bestimmte Affekte umgeleitet werden."

Der Blumfeld-Song "Tics" handelte vom Vertrauensverlust der Bevölkerung in die demokratischen Abstimmungsprozesse. "Aber das vorschnelle Hypen von irgendwelchen Empörungsgesten, das behagt mir nicht so", sagt Distelmeyer. "Mich hat das amüsiert, dass es auf der einen Seite basisdemokratische Aktionen gibt wie das Auf-die-Straße-Gehen und gleichzeitig eine Huldigung von Adligenfiguren. Das sehe ich als eine verspielt verschwurbelte Sehnsucht nach einem gerechten König oder einer gerechten Königin."

Es gibt eine Kontinuität in Distelmeyers langer Karriere: die Unlust, sich festlegen zu lassen. Die Sehnsucht nach Freiheit von allen Zuschreibungen und Zumutungen. Was andere in einem sehen wollen, was sich andere erhoffen, für was er alles stehen soll, was er stellvertretend verhandeln soll.

"Politik im deutschen Pop", sagt er, "ist nicht mein Thema." Liedermacher wie Wolf Biermann und Hannes Wader haben nie eine Rolle gespielt für einen, der durch Punkrock erweckt wurde. "Künstler sind, in dem was sie machen, grundsätzlich Experten der Bedeutungslosigkeit, der Sinnlosigkeit und der Leere." Sollen sie die Leere füllen? "Buddhisten wollen zu diesem Nirwana, zu diesem Ort der Leere. Und Künstler, das ist eine Hypothese, wollen nicht dahin, sondern suchen mit ihren Erfahrungen dem zu trotzen."

Gedanken um sein Image macht er sich nicht. In Deutschland, sagt Distelmeyer, gebe es keine Tradition, der Vielschichtigkeit von Unterhaltungskünstlern gerecht zu werden. "Es gibt den verkleideten Klassenclown, den erfolgreichen Dummkopf oder den komplizierten Künstler. That's it . In Amerika oder England ist das anders."

Wenn Distelmeyer, der Ende der Achtzigerjahre nach Hamburg kam - "eine aufregende Zeit" -, heute von der Stadt spricht, klingt viel Sympathie mit: "Das ist eine sehr lebenswerte und tolle Stadt." Ein fast geplauderter Satz ist das - wäre er nicht von Distelmeyer gesagt worden. Und in Hamburg lebt er ohnehin seit anderthalb Jahren nicht mehr, wie er dann beiläufig mitteilt. Das "A" zu Beginn des Gesprächs, aus dem er nach "B" gereist ist, ist eben gerade nicht Hamburg, sondern Berlin. "In Berlin zu leben empfinde ich gerade als sehr aufregend und lebendig, aber an meinen Songs könnte ich auf dem Land genauso arbeiten", sagt er.

Kaffee und Apfelschorle sind getrunken. Distelmeyer hat jetzt Hunger. Eines soll Kunst auch: Bäuche füllen.

Jochen Distelmeyer & Gustav heute, 20 Uhr, Thalia-Theater. Tickets ab 17 Euro