Hamburg. Vor kurzem hat er in der Elbphilharmonie mit einem leicht szenischen „Freischütz“ bewiesen, wie überraschend anders Webers Publikums-Liebling laufen und klingen kann. René Jacobs, Ex-Countertenor und seit Jahrzehnten gefragter Alte-Musik-Spezialist, ist aus dieser Schublade längst heraus.
Hamburger Abendblatt: Warum dirigieren Sie ohne Taktstock?
René Jacobs: Ein Taktstock ist immer ein faschistoides Symbol. Es gibt aber auch Dirigenten, bei denen er das nicht ist.
Was ist Ihnen lieber: ein kluger oder ein guter Sänger?
Jacobs: Ein guter Singer ist immer ein kluger Sänger. Einer, der weiß, was mit der Partie gemeint ist. Der den Text überzeugend interpretiert, mit einer Stimme, die gute Technik hat, die trägt und sinnlich sein kann, wenn die Musik sinnlich ist.
Was viele nicht wissen: Sie waren Lehrer für Latein und Griechisch.
Jacobs: Ja, ich habe Altphilologie studiert und drei Jahre unterrichtet, gleichzeitig war ich aber auch schon mit Musik beschäftigt und habe mich dann entschieden, vom Lehrerdasein Abschied zu nehmen. Wenn man mit Opern und Oratorien zu tun hat und die Quellen dieser Texte in der Originalsprache lesen kann, kann das nur ein Vorteil sein.
Jacobs: Webers „Freischütz“ einer seiner Favoriten
Sie werden wegen Ihres Umgangs mit Alter Musik sehr oft als „Revolutionär“ bezeichnet. Aber eigentlich sind Sie doch eher ein extrem Wertkonservativer, der nur zu dem zurückgeht, wie es ursprünglich war und gedacht war…
Jacobs: … dabei habe ich immer mehr und mehr mit den Textbüchern beschäftigt. Und finde sehr oft heraus, wie modern der jeweilige Stoff war, oder, wenn es nur um Musik geht, die Musik.
Ein Zitat von Ihnen, schon etwas älter, als Sie vor etlichen Jahren hier an der Staatsoper eine Gluck-Oper dirigierten: „Diese Orchestermusiker wissen mit der Musik gar nichts anzufangen. Das war eine schlechte Erfahrung, seitdem habe ich in keinem deutschen Opernhaus mehr dirigiert, und wenn ich meine Memoiren schreiben sollte, käme dort der Ausspruch von einem der Ersten Geiger hinein: Sie sind hier nicht zum Singen da, sondern zum Schlagen. Außerdem bekam ich zu hören, dass man Renaissancemusik nicht so sehr lieben würde.“ Gluck lebte allerdings Jahrhunderte später…
Jacobs: Diese Erfahrung hat mich gezeichnet. Wegen des deutschen Repertoire-Systems an Opernhäusern war jede Aufführung war mit einer anderen Besetzung, manchmal war die ganze Cello-Gruppe neu. Und ich kann mich erinnern, dass jener Konzertmeister, der bei einem Drittel der Proben dabei gewesen war, zwei Drittel der Aufführungen spielte. Für mich ist so etwas ein sehr unangenehmes Leben.
Mit anderen Orchestern, so wie jetzt dem Freiburger Barockorchester, komme ich sehr viel besser aus, weil das keine Angestellten sind. Die spielen eigentlich jeden Abend, als ob ihr Leben davon abhängt. Und am liebsten mache ich mit solchen Orchestern Werke wie jetzt Webers „Freischütz“, den sie sonst nie spielen, nur oberflächlich kennen oder vielleicht auch nicht lieben. Jetzt lieben sie alle dieses Stück, das heißt, es wird garantiert klingen wie absolut neu.
„Singspiel“: Genre zwischen Singen und Sprechen
Der „Freischütz“ ist von 1821, Monteverdis „Orfeo“ von 1607. War es für Sie einfach und selbstverständlich, sie aus dem italienischen Frühbarock bis in die deutsche Romantik – Welten entfernt - vorzuarbeiten?
Jacobs: Ich gehe immer wieder zurück zu den großen Meisterwerken aus dem 17. und 18. Jahrhundert, aber der Gang durch die Musikgeschichte passiert mehrere Stationen. In den letzten Jahren habe ich mich viel mit dem Genre „Singspiel“ befasst, den Wechsel zwischen Singen und Sprechen finde ich sehr spannend.
Wenn man Aufnahmen von Ihnen oder anderen historisch Informierten hört und sie dann mit denen von „Standardorchestern“ vergleicht, ist immer wieder erstaunlich, wie wenig manche aus den Möglichkeiten des Materials machen. Wie beurteilen Sie das: Trägheit, Faulheit, Pragmatismus im Rahmen des Dienstplans?
Jacobs: Es liegt am System.
Sie würden wahrscheinlich am liebsten vor jeder Probe reichlich Sekundärliteratur verteilen?
Jacobs: Ja, aber das ist auch nicht richtig. Ich habe gelernt, alles Wichtige in sehr kurzer Zeit zu sagen. Es soll nicht klingen wie ein Schulmeister. Ich bin Schulmeister gewesen und weiß, was man vermeiden sollte.
Muss man gläubig sein, um eine Bach-Passion oder Beethovens „Missa solemnis“ angemessen aufführen zu können?
Jacobs: Man muss eine spirituelle Ader haben und davon überzeugt sein, dass es etwas Höheres, Transzendentes gibt als wir hier auf Erden erleben. Bach und Beethoven waren beide sehr an Theologie interessiert. Bach hat sie sein Leben lang in Musik umgesetzt. Beethoven nicht. Der wollte für seine Missa alles wissen, er hat sich von Theologen helfen lassen und an der Musik merkt man sofort, welches Element der Theologie er liebte.
Dass Gott seinen Sohn schickte, um uns zu befreien, liebte er wie ein Kunstwerk des menschlichen Geistes. Schwierig ist auch, dass er so hoch schreibt, vor allem für die Chor-Soprane, so hoch, dass es angestrengt klingt. Für mich ist das ein Symbol, dass Gott so weit weg ist: Wenn wir zu Gott wollen, müssen wir hoch singen.
Jacobs: Zu wenig Zeit zum Dirigieren
Spüren Sie für sich, dass sie mit jeder Matthäuspassion gläubiger werden oder ist das einfach ein weiterer Auftritt?
Jacobs: Nein, so ist das nicht. Bei den Passionen gehe ich immer weiter ins Suchen nach der Bedeutung des Textes und die theologischen Hintergründe. Eine Zeile wie „Am Abend, als Kühle war“ ist schöne Dichtung und man verliebt sich in diesen Text. Aber es geht um einen ganz bestimmten Abend. Die Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament interessiert mich immer mehr. Darum dirigiere ich Bach auch nicht so oft, denn jedes Mal brauche ich Zeit, um das Stück neu zu studieren. Ich denke immer mehr, dass ich ihm nicht würdig bin, wenn ich es nicht noch tiefer studiere.
Sie haben die Ehre von Beethovens „Leonore“ gerettet, die als verunglückte Erstfassung seiner Oper „Fidelio“ gilt. Welche anderen Stücke möchten Sie außerdem noch von ihrem zu schlechten Ruf befreien?
Jacobs: Der „Freischütz“ gilt als Meisterwerk. Aber mit Nuancen. Schon im 19. Jahrhundert wurde gesagt, dass Weber geniale Musik für ein mittelmäßiges oder sogar schlechtes Libretto geschrieben hat. Der Librettist Kind hat sich sehr darüber beklagt, dass Weber wichtige Passagen nicht vertont hat und gesagt: Meine Oper ist zu einer Statue ohne Kopf geworden. Weber fand diese Szenen zwar gut und wollte sie auch vertonen, aber seine Frau, eine Sängerin, hatte ihm davon abgeraten.
Was muss passieren, damit Sie sagen: Ich dirigiere jetzt einfach mal Mahler oder Sibelius? Haben Sie eine Repertoire-Schmerzgrenze?
Jacobs: Dafür muss passieren, dass ich 150 Jahre lebe. Ich brauche viel Zeit, ich bereite alles tiefgehend vor. Und wenn ich dann kleine Sprünge in der Musikgeschichte mache, ist das ein Extra-Grund, um mir Zeit zu nehmen.
Sie wollen also nichts und niemand überspringen, sondern sich schön chronologisch vorarbeiten?
Jacobs: Ja. Nicht alles natürlich, schon nur die Stücke, die ich liebe.
- Nelsons auf Autopilot und Wiener Glut auf kleiner Flamme
- Laeiszhalle: Einmal mehr staunen über das Genie Mozart
- Mäkelä und Sibelius: Ein langer, nicht immer ruhiger Fluss
Ein Dirigent hat mir bei unserem Gespräch gesagt, dass er sich für jede Aufführung eine frische Partitur des Stücks organisiert. Er will unbedingt immer wieder zurück auf Null und gar nicht mehr wissen, was er wo und wie beim letzten Mal angestellt hat.
Jacobs: Das kann ich sehr gut verstehen. Für bestimmte Stücke habe ich mehrere Partituren. Nicht, weil ich alles anders machen möchte. Es gab eine Zeit, als ich nur sehr schlecht sehen konnte und viel mit Farben markiert habe. Jetzt sind die Augen operiert. Es ist schon passiert, dass ich eine Partitur neu gekauft habe, weil in meiner alten Ausgabe zu viel Nebensächliches stand.
Haben Sie einen archäologischen Ehrgeiz? Irgendwann im Leben eine Notenbibliothek betreten und eine der vielen verschollenen Monteverdi-Opern finden, solche Dinge?
Jacobs: Vor langer Zeit, als ich nur Sänger und noch nicht Dirigent war und viel mehr freie Zeit hatte, bin ich oft in Bibliotheken gegangen, um Musik zu suchen, die für meine Stimme gut war. Jetzt als Dirigent nicht. Ich hoffe aber sehr, dass ein Musikwissenschaftler mir als erstem Bescheid sagt, wenn er Monteverdis „L‘Arianna“ entdeckt.
Ihnen muss ich die historische Bedeutung der Hamburger Gänsemarkt-Oper nicht erklären, Händel, Telemann etc. pp. Wir sind gerade in der Elbphilharmonie, doch das Thema Gänsemarkt-Oper führt nach wie vor, freundlich ausgedrückt, ein Schattendasein im Bewusstsein der Stadt. Wie beurteilen Sie das von außen?
Jacobs: Das finde ich nach wie vor eine Schande, für Hamburg, aber eigentlich auch für Deutschland. Es gibt Stücke aus der Zeit, die so gut sind, dass sie überall gespielt werden müssten. Neulich habe ich Telemanns „Orpheus“ wieder aufgenommen, als halbszenische Aufführung, bei einer Tournee und die Oper Liceu in Barcelona war ausverkauft. Alle haben gefragt: Warum wird diese Oper nicht als ein Meisterwerk betrachtet? Und warum in Deutschland nicht?
Keine Ahnung.
Jacobs: Wagner! Wagner! Wagner!
Auch kein schlechter Komponist.
Jacobs: Ja, aber darum geht es geht nicht. Wenn Wagner Musik schreibt, schreibt er gut. Wenn er über Musik schreibt, schreibt er schlecht.
Das kann aber doch nicht der einzige Grund sein, dass hier ein Telemann so gut wie nicht bekannt ist.
Jacobs: Es wäre etwas für die Elbphilharmonie. Ein Stück wie der „Orpheus“ würde da fantastisch klingen.
Kunst des Dirigierens: Spontan aus dem Gefühl heraus
Ist der Trick für den Erfolg, vor dem Konzert auch wirklich alles über das jeweilige Stück zu wissen, um es dann komplett zu vergessen und „nur“ aus dem Gefühl heraus zu dirigieren?
Jacobs: So ist es. Man muss nicht nur im Konzert selber spontan sein, sondern auch in der Probenphase. Da hat man dann auch noch die Sänger und man muss einiges an die jeweilige Persönlichkeit anpassen, was sie besonders gut oder vielleicht weniger gut können. Und wenn die selber Ideen haben, bin ich immer sehr froh.
Ihr Dirigenten-Kollege Ton Koopman hat ein komplettes Altersheim aufgekauft, um all seine Noten, Stiche, Bücher und etliche Cembali unterzubringen. Haben Sie dieses Platz-Problem auch?
Jacobs: Nein. Zuhause habe ich nur ein Érard-Klavier, Ende 19. Jahrhundert, das ist mein einziges historisches Instrument. Ich habe sehr viele moderne wissenschaftliche Ausgaben von Musik und bin niemand, der die ganze Zeit antiquarische Musik kaufen will, nur um diese Noten zu haben. Und ich lese sehr gern Bücher über Musik. Das finde ich spannender als Originale zu besitzen.
Ein Opern-Regisseur, der für meine Vorstellung von Musiktheater als nicht ideal herausstellt - wie frustrierend ist das?
Jacobs: Es geht nicht nur darum, Noten lesen zu können. Es gibt auch Regisseure, die den Text nicht lesen können, sehr viel öfter, als man denkt. Und die sagen dann gern, wenn ich Sie auf etwas hinweise: Ich inszeniere doch nicht den Text, ich inszeniere die Musik! Aber von Musik verstehen sie auch nichts. Das ist das Schlimmste. Und es gibt Regisseure, die grundsätzlich Sänger nicht lieben. Es gibt immer öfter Theaterregisseure, deren Grundprinzip ist, dass Sänger sowieso nicht spielen können.
Und dann?
Jacobs: Mich hat einmal ein Regisseur in Paris besucht, es ging um eine Monteverdi-„Poppea“ in Brüssel. Er wollte alle Personen mit Schauspielern verdoppeln, das hat er mir schon in den ersten zehn Minuten gesagt. Und ich habe nur darüber nachgedacht, wie ich es schaffe, dass er sofort mein Haus verlässt. Ich habe ihm beigebracht, dass ich Personen mit Psychologie nicht einsehe, auch wenn Freud noch nicht geboren war. Er blieb aber länger als zehn Minuten.
Jacobs: Auch zum Kochen zu wenig Zeit
Wie sicher sind Sie sich, dass Sie immer recht haben?
Jacobs: Manchmal bin ich sehr lange unsicher, ob ich recht habe. Man muss als Künstler immer Demut zeigen, gegenüber dem Stück. Wir sind ausführende Künstler. Ich bin nicht Weber, der diesen „Freischütz“ komponiert hat.
Bei welcher Musik fällt Ihnen vor Langeweile der Kopf auf den Tisch?
Jacobs: Puccini zum Beispiel, und diese ganzen Verismo-Komponisten, Leoncavallo und so. Vielleicht hat es damit zu tun, dass mich meine Mutter ins Opernhaus von Gent mitgenommen hat und meine erste Oper war Leoncavallos „Cavalleria rusticana“. Ich liebte schon Bach und Schubert und fand das damals schon schrecklich.
Mit welcher Musik würden Sie einen Neuling auf Barock süchtig machen wollen?
Jacobs: Vielleicht mit Monteverdis „Poppea“, die bietet so viel Abwechslung. Aber dann gibt es das Problem, dass in solchen Stücken im Sinne von Belcanto so wenig gesungen wird. Dafür würde ich frühen Händel empfehlen, „Agrippina“ beispielsweise. Die späteren Opern sind viel weniger gelungen. Und jetzt würde ich auch sagen: Telemanns „Orpheus“.
Und wenn Ihnen jemand erklärt: Mir gefallen eigentlich nur die „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi?
Jacobs: Ich würde sagen: Sie haben recht.
Was René Jacobs außer Musik macht? So ziemlich das einzige, was ich über Sie gefunden habe, war der Satz: Ich liebe auch gutes Essen. Jemand, der als Dirigent so penibel ist wie Sie, ist entweder selbst ein toller Koch. Oder jemand, der sich gern gut bekochen lässt.
Jacobs: Letzteres. Ich kann sehr gut kochen, aber es dauert zu lange.
Aufnahme: Weber „Freischütz“ Freiburger Barockorchester, René Jacobs (harmonia mundi, 2 CDs, ca. 25 Euro)
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