Gleich zwei Ausstellungen in Hamburg zeigen die Werke Gerhard Richters. Eine Annäherung an den bedeutendsten lebenden deutschen Künstler.

Vier Tage nach seinem 13. Geburtstag beobachtet Gerhard Richter am späten Abend des 13. Februar 1945, wie britische Bombergeschwader mit bedrohlichem Brummen Kurs auf seine Heimatstadt Dresden nehmen. Wenig später wird der Junge, der damals mit seiner Mutter im unweit entfernten Waltersdorf in der Oberlausitz lebt, Zeuge eines Infernos, das ihn sein Leben lang prägen wird: Wohnhäuser, ganze Stadtviertel, weltberühmte Baudenkmäler sinken innerhalb weniger Stunden in Trümmer und Zigtausende Menschen vergehen in einem alles verzehrenden Feuer

Das Bild, das er 19 Jahre später dazu malen wird, heißt "Mustang Staffel". Es zeigt acht amerikanische "Mustang"-Jäger, die in geordneter Formation schräg über ein offenes Gelände schweben. Amerikanische Mustangs haben den alliierten Bombern in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 Geleitschutz gegeben. Es ist ein perfekt gemaltes Bild von kalter Präzision und verstörender Schönheit. Und es ist ein typisches Richter-Bild, denn es trägt etwas Schreckliches in sich, ohne es abzubilden.

Im August 2004 hat Richter die "Mustang Staffel" in der Galerie Neue Meister im Dresdner Albertinum ausgestellt, an jenem Ort, wo er 1960 sein "Stillleben mit Muscheln" auf der "Schau junger Künstler" zeigen konnte. Damit hat sich ein Kreis geschlossen, Richter ist mit diesem und weiteren Bildern dorthin zurückgekehrt, wo das Leben des wohl bedeutendsten Malers der Gegenwart begonnen hat und wo seit 2005 das Gerhard-Richter-Archiv seine Kunst erforscht und dokumentiert.

+++ Die Richter-Ausstellungen in Hamburg +++

Gerhard Richter wird weltweit geschätzt, er ist in den wichtigsten Museen vertreten und gilt als der teuerste lebende deutsche Künstler. Auf der vom "Kunstkompass" herausgegebenen "Weltrangliste der lebenden Künstler" hat er erst 2010 wieder den ersten Platz belegt. Vor neun Jahren, zum 70. Geburtstag, richtete ihm das New Yorker Museum of Modern Art eine Retrospektive aus, die 188 Werke umfasste - eine Ehrung im Pantheon der modernen Kunst, die niemals zuvor einem lebenden Künstler zuteil geworden ist. Dabei ist Richter sehr zurückhaltend, setzt sich nicht in Szene, spielt nicht den Star und hält nicht als Malerfürst Hof. Dafür überrascht er sein Publikum immer wieder, lässt es aber auch ratlos zurück. Er malte zum Beispiel politische Themen, ohne sich politisch zuzuordnen oder gar vereinnahmen zu lassen. So umgibt ihn eine Aura eines Künstlers, der sich entzieht, nicht erklären will.

Am Mittwoch nächster Woche wird Gerhard Richter 79. Aber das bevorstehende Jubiläum, das im nächsten Jahr mit Großausstellungen in der Tate Modern in London, im Centre Pompidou in Paris und in der Berliner Nationalgalerie gewissermaßen im XXL-Format begangen wird, startet bereits jetzt in Hamburg mit zwei thematisch geschickt aufeinander abgestimmten Ausstellungen im Bucerius-Kunst-Forum und in der Kunsthalle.

Während die Kunsthalle ihre Ausstellung "Unscharf. Nach Gerhard Richter" am 11. Februar eröffnet, ist die vom früheren Kunsthallen-Direktor Uwe Schneede kuratierte Schau im Bucerius-Kunst-Forum schon von heute an zu sehen. "Bilder einer Epoche" heißt die Ausstellung, die jenen Bildern gewidmet ist, für die sich Richter fotografischer Vorlagen bedient hat. Sie zeigt aber zugleich eindrucksvoll, wie eng Kunst und Leben bei diesem außergewöhnlichen Maler miteinander verwoben sind.

Nach dem Schulabschluss beginnt Gerhard Richter in Zittau eine Lehre als Schriften- und Bühnenmaler, wechselt aber 1951 an die Dresdner Kunstakademie, wo er ein Studium mit dem Schwerpunkt "Wandmalerei" aufnimmt. Einerseits ist die Ausbildung an der traditionsreichen Dresdner Akademie grundsolide, andererseits ist sie dem Dogma des "Sozialistischen Realismus" unterworfen, was die meisten Künstler schon damals als permanente Zumutung empfinden. Richter fügt sich und schließt das Studium mit einem großformatigen Wandgemälde zum Thema "Lebensfreude" ab, das er für das Treppenhaus des Deutschen Hygienemuseums in Dresden malt. Heute ist es übermalt und Richter lehnt eine Freilegung vehement ab, wie er überhaupt sein komplettes in Dresden entstandenes Frühwerk ablehnt.

Als er 1959 die Documenta II in Kassel besucht, ist er von dem, was er da als vitalen Gegenentwurf zum Sozialistischen Realismus zu sehen bekommt, so fasziniert, dass er wenig später eine radikale Wende im Leben und in der Kunst vornimmt: Im März 1961, knapp fünf Monate vor dem Bau der Berliner Mauer, flieht er mit seiner damaligen Frau Emma in die Bundesrepublik.

Düsseldorf, wo er zunächst lebt, findet er zwar im Vergleich selbst mit dem zerstörten Dresden hässlich, aber hier erfindet er sich als Maler noch einmal völlig neu. Er lernt die aktuelle Kunst kennen, probiert sich aus, experimentiert und findet dabei zu sich selbst. "Ich bin sehr glücklich, dass ich hier bin. Und ich bin glücklich, dass ich früher drüben war", sagt der Mann, der die Freiheit des Westen genießt, fasziniert ist von Beuys und Duchamp, von Fluxus, Performances und Aktionen und dabei doch spürt, dass er vor allem eines ist und immer bleiben wird: Maler.

Richters ganz eigene Auseinandersetzung mit der ihn nun umgebenden Kunst zeigt sich schon in der Wahl der Motive. Von amerikanischen Pop-Art-Künstlern wie Roy Lichtenstein fühlt er sich angeregt, Banales zu thematisieren. So malt er 1965 zum Beispiel einen Küchenstuhl. Zu dem Gemälde, das jetzt auch im Bucerius-Kunst-Forum gezeigt wird, schreibt er: "Es ist eigentlich ein bisschen erbärmlich und sehr banal, aber er bringt doch eine Stimmung mit. Das kann ich schwer erklären." Etwa von 1962 bis 1967 widmet sich Richter einer figürlichen Malerei, für die er sich seine Motive in Zeitschriften, Illustrierten und Katalogen sucht. Es ist ein merkwürdiges Sammelsurium von Themen, die er in manchmal fast monochromen Bildern gestaltet: eine Klorolle, ein faltbarer Wäschetrockner aus einem Warenhauskatalog, zwei Sargträger oder eine Sekretärin. Aber diese Bilder, die - und das ist das überraschende Erlebnis der Ausstellung im Bucerius-Kunst-Forum - erst im großen Format ihrer volle Wirkung entfalten, haben etwas Abgründiges. So sagt Uwe Schneede zur "Sekretärin" von 1964, das die Geliebte eines Anwalts zeigt, der seine Ehefrau ihretwegen umgebracht hat: "Man sieht dem Motiv das Mörderische nicht an, aber das Bild trägt es in sich."

Aber Richter hat auch Abgründe ausgedrückt, ohne sich ihrer bewusst zu sein. So porträtiert er nach Fotos seine Tante Marianne Schönfelder und seinen Schwiegervater, den Dresdner Arzt Heinrich Eufinger, ohne zu wissen, dass es sich hier um Opfer und Täter gehandelt hat: Richters schizophrene Tante Marianne fiel dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm zum Opfer. Schwiegervater Heinrich Eufinger war als SS-Obersturmbannführer für die Zwangssterilisierungen von Geisteskranken in Dresden verantwortlich. Richter hat erst spät davon erfahren.

Bestechend an Richters Bildern ist die malerische Qualität, die handwerkliche Perfektion. Er experimentiert auf höchstem Niveau, findet Ausdrucksformen wie die Verwischungen, die Verallgemeinerung und zugleich eine merkwürdige Distanz schaffen, aber er entwickelt sich ständig weiter. Nach den gegenständlichen Bildern nach Fotos wendet er sich abstrakten Motiven zu, doch mit dem Zyklus "18. Oktober 1977" greift er die Foto-Motive erneut auf, allerdings auf völlig neue Weise: Der 1988 abgeschlossene, 15 Gemälde umfassende Werkkomplex, der als Leihgabe aus dem New Yorker MoMA ins Bucerius-Kunst-Forum gekommen ist, zeigt die RAF-Häftlinge nach ihrem Selbstmord im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Im oberen Oktogon sind die in Grautönen gehaltenen Gemälde vor weißen Wänden in einer Atmosphäre zu erleben, die antiseptisch und zugleich merkwürdig sakral anmutet. Der Stammheim-Zyklus, der zu den Ikonen der Gegenwartskunst zählt, stellt einen völlig neuen Typus des Historienbildes dar und passt daher hervorragend in den bisherigen Ausstellungskontext des Bucerius-Kunst-Forums. "Dieser Zyklus lässt Geschichte lebendig werden über Bilder, die Teil unseres historischen Gedächtnisses sind", meint Ortrud Westheider, die Direktorin der Ausstellungshalle am Rathausmarkt, über eines der Schlüsselwerke dieses Ausnahmekünstlers, das weder kritisiert noch heroisiert - und dennoch kaum einen Betrachter gleichgültig lassen wird. Schon als Kind in Waltersdorf wollte Gerhard Richter Maler werden. Er hat sich stets daran gehalten und die Kunst zu seinem Lebensprinzip gemacht. Heute lebt der gebürtige Dresdner, der Frieden mit seiner noch immer geliebten Heimatstadt geschlossen hat, in Köln. Er ist in dritter Ehe mit der Malerin Sabine Moritz verheiratet und hat mir ihr drei Kinder. Die Hamburger Ausstellungen hat Gerhard Richter nach Kräften unterstützt und mit Interesse gehört, wie die Kuratoren sein Werk beurteilen und einordnen. Da verwundert es auch nicht, dass er zu der folgenden Einschätzung fähig ist: "Meine Bilder sind klüger als ich."