Tanz Kampnagel

105 Tänzer auf einer Bühne – eine ganze Menge Mensch

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105 Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne tänzerische Ausbildung bevölkern die große Kampnagelhalle k6.

105 Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne tänzerische Ausbildung bevölkern die große Kampnagelhalle k6.

Foto: Öncü Gültekin

Zum Saisonfinale haut Patricia Carolin Mai auf Kampnagel auf die Sahne. Bei ihrem Tanzstück „Rausch“ sind viele Hamburgerinnen dabei.

Hamburg.  105. Schon alleine mit der Anzahl der Teilnehmer überrollt einen Patricia Carolin Mais Tanzstück „Rausch“ zum Saisonabschluss auf Kampnagel: 105 Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne tänzerische Ausbildung bevölkern die riesige Halle k6. Alte, junge, große, kleine, hell- und dunkelhäutige Tänzerinnen und Tänzer, eine unüberschaubare Menge Mensch, die sich auf den Tanz und auf die Bewegung einlässt.

„Was ist überhaupt Tanz?“, fragt das Stück, und gleich zu Beginn liefert es auch eine Reihe möglicher Antworten: Es gibt den „Schön-dich-zu-sehen-Tanz“, den „Publikumsbegrüßungs-Tanz“, den „Immer-noch-in-die-Ex-verliebten-Tanz“, und während diese sicher unvollständige Liste immer länger wird und dennoch unvollständig bleibt, löst sich eine Frau aus der Masse und beginnt zu tanzen, ganz leicht, kleine, langsam erweiterte Kreise.

Mais Choreografie ist an dieser Stelle minimalistisch, allerdings ist das ein Minimalismus, der die ganz große Form braucht: die riesige Gruppe im Hintergrund, in der nur wenig passiert, hier eine Positionsverlagerung, dort ein gemeinsames Kichern. Jemand flüstert seinem Nachbarn etwas ins Ohr, der trägt die Botschaft weiter, stille Post. Es ist schön, hermetisch, intim.

Kampnagel: Irgendwann beginnt die Menschenmasse, sich sanft zu wiegen

Aber die Choreografin kann auch anders. Irgendwann kommt Livemusik von Maike Hautz und Gabriel Wörfel dazu, irgendwann beginnt die Menschenmasse, sich sanft zu wiegen, irgendwann werden die Bewegungen expressiver, raumgreifender. Ein Spalier formiert sich, die Arme heben sich, wie Schlingpflanzen im sanft bewegten Wasser, eine Tänzerin hat die Augen geschlossen, kurz versinkt alles im selbstvergessenen Rave, einen Augenblick nur, dann wird der Tanz wieder konzentrierter, hier bilden sich kleine Gruppen, dort lösen sich Gruppen auf.

Mai choreografiert Gruppendynamiken: Sie interessiert sich für die Muster, in denen sich Menschen zusammenfinden, in denen sie sich voneinander abgrenzen. Immer wieder beobachtet man kleine Berührungen, nicht übergriffig, eher freundlich, beiläufig, tastend – „Rausch“ ist auch eine Studie in Rücksichtnahme, eine Studie zur Frage, wie eine große Menschenmenge ohne Verletzungen miteinander umgehen sollte.

Was der Abend nicht ist: ein Rausch. Will er aber auch gar nicht sein. „Die Bühne ist kein Ort, um rauschhafte Feste zu feiern“, wird im Programmzettel beschrieben, „ein Stück ist kein Rave, eine Bühne ist kein Club, und eine Stunde Aufführung ist für einen Rausch definitiv zu kurz.“

Der Rausch liegt hier hinter der Performance, als Ahnung dessen, was in der Begegnung von Menschen passieren kann. In der Lust an Kommunikation und Berührung.

Und nicht zuletzt liegt der Rausch in der Freude der Performer. Wie sie sich bei der Zugabe zu Elvis Presleys „All Shook Up“ im Formationstanz verausgaben und wie sich Einzelne aus der strengen Formation lösen, um ihr eigenes Ding zu machen. Und wie sie sich freuen, ihre Individualität in der Menge ausleben zu können.

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