Literatur

Der Komponist Richard Wagner ist überall

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Wimmelbilder für Wagnerianer: Für eine Sammlung großformatiger Bilderbogen hat der Künstler Martin Stark holzschnittartige und ausgesprochen detailreiche Panorama-Versionen der „Ring“-Opern des ­Meisters entworfen.

Wimmelbilder für Wagnerianer: Für eine Sammlung großformatiger Bilderbogen hat der Künstler Martin Stark holzschnittartige und ausgesprochen detailreiche Panorama-Versionen der „Ring“-Opern des ­Meisters entworfen.

Foto: büchergilde gutenberg

Der Musikjournalist Alex Ross hat ein spektakuläres Buch über den Visionär und seine Wirkung geschrieben.

Hamburg. Sobald man einen Hammer in die Hand nimmt, sieht man überall nur noch Nägel. Auf das neue, episch ausufernde Buch des US-amerikanischen Musikjournalisten Alex Ross umgemünzt, heißt das: Sobald man über Richard Wagner, seine Risiken und die Nebenwirkungen seines Schaffens nachzudenken beginnt, begegnet man ihm überall.

In Thomas Manns „Buddenbrooks“ ist, wie in Wagners „Ring“, der Anfang vom Ende mit der Anschaffung einer Immobilie verbunden. In Coppolas Vietnam-Film „Apocalypse Now“ ist der martialische Walkürenritt der Soundtrack eines Luftangriffs, 64 Jahre nachdem D. W. Griffith im Stummfilm-Klassiker „Birth of a Nation“ genau diese Musik verwendete, um das Stürmen einer Südstaaten-Stadt durch Mitglieder des Ku-Klux-Klans zu vertonen.

Der Gesamtkunstwerker Wagner ist zäher als Unkraut

Nur sehr selten begegnet man Wagner in dieser Testaments-Bilanz frontal und als anmaßend selbstverliebtes Maß aller Dinge. Viel öfter aber, und das macht es so viel interessanter, eher unterschwellig, als ästhetisches Grundrauschen in den verschiedensten Genres mitklingend, verstörend, erhellend, anregend, aufregend. Nie ganz weg, nie verjährt oder überflüssig gestrig verkehrt.

Sein Resonanzraum ist riesig. Dieser Gesamtkunstwerker Wagner ist zäher als jedes Unkraut, der vergeht nicht. So eindringlich ist diese Hartnäckigkeit, dass „Die Welt nach Wagner“, der deutsche Titel von „Wagnerism“, halbrichtig wirkt, weil es Ross um die sich wandelnde Welt mit ihm geht, gerade mal 137 Jahre nach einem romanreifen Tod in Venedig.

Wagner stirbt auf den ersten Seiten

„Am Anfang interessierte mich Wagner nur als Problem“, das verrät Ross erst im Nachwort. In mehr als zehnjähriger Fleißarbeit hat der Musikkritiker des „New Yorker“ zuvor zusammengetragen, aufgebohrt und dechiffriert, wie sehr Wagner Spuren in so ziemlich jeder Kultursparte hinterlassen hat: Kunst, Philosophie, Literatur, Musik, Film, Architektur, Pop. Wie in seinen früheren Büchern „The Rest is Noise“ (2007) und „Listen To This“ (2010, das jetzt als Taschenbuch in deutscher Übersetzung erscheint) hält Ross ein weiteres Plädoyer dafür, Musik nicht nur als musikalisches Phänomen zu besichtigen, sondern als prägende, geprägte Tonspur einer nie finalen Gesellschaftsform.

Ross schrieb eine Druckbetankung aus Verweisen und Verstrebungen, eine Enzyklopädie, die sich mit Hingabe auf ihr monströs vielschichtiges Thema wirft. Höchstens noch über Jesus sind so viele Buchregalmeter gefüllt wurden wie über die Musik und die Schriften dieses Komponisten. Also tänzelt Ross virtuos um die riskante Verlockung herum, sich vorwiegend mit Details der Bühnenwerke oder der Biografie zu beschäftigen. Bei ihm stirbt Wagner auf den ersten Seiten und ist aus dem Weg, damit die Legende und das Verklären beginnen kann, das Verstehen und erst recht das Falschverstehen, das Eingemeinden und das Andeuten, mit Erkennungscodes für Gleichgesinnte.

Süffig mäandernde Kulturgeschichtsanalyse

Man muss Wagners Musik nicht bis ins kleinste Leitmotiv kennen, um sich staunend in dieser Lektüre zu verlieren, die eine süffig mäandernde Kulturgeschichtsanalyse des späten 19. und des 20. Jahrhunderts bietet. Aber: Es hilft, um Ursachen und Auswirkungen klarer erkennen zu können. Ross kombiniert Geschichtchen und Plicht-Fakten aus der Pausenplausch-Grundausstattung jedes Wagnerianers mit erstaunlichen Einsichten in Epochenverläufe.

Der Schriftsteller Baudelaire war ein früher Bewunderer, ebenso Zola und später die nach neuen Ausdruckswelten suchenden Symbolisten; Joyce, Proust, T. S. Eliot, jeder, der wollte, konnte in Wagners Welten etwas Passendes für sich und seine Arbeit entdecken. Van Gogh schwärmte Gauguin von Wagners Musik vor. Im Frankreich jener Jahre war er ein Idol der Avantgarde. Andere Länder, ähnliche Begeisterung: In den USA des späten 19. Jahrhunderts, wo die Musikkultur von europäischen Importen geprägt war und von Emigranten gefördert wurde, galt Wagner als Hochkultur-Goldstandard; seine Helden wurden, auch wenn sie nicht nur nach Westen zogen, als Eroberer-Charaktere gedeutet.

Das so gern zitierte Mark-Twain-Bonmot (das aber gar nicht von ihm stammt), Wagners Musik sei besser, als sie klingt, darf nicht fehlen. Im viktorianischen Großbritannien wiederum gefielen eher Wagners Faible für Sagenstoffe und insbesondere die offenkundigen Anleihen bei der Artus-Saga. Und wer noch nicht wusste, dass sogar in Venezuela von Edgar Allen Poe beeinflusste Erzählungen mit Wagner-Aroma geschrieben wurden, der weiß es jetzt, dank Ross.

Auch in den „Star Wars“-Filmen findet sich Wagner

Vor allem aber ist Wagner ein epochales politisches Thema, denn er ahnte, verarbeitete und provozierte Strömungen und Umbrüche. Er war Revolutionär und Sozialutopist, hier „links“ und dort „rechts“, war übel giftiger Antisemit und welpenzahmer Humanist. Er verachtete, wie sein Idol Beethoven, klassische Autoritäten und molk dreist Unsummen aus dem kitschsüchtigen Bayernkönig Ludwig II., um sich seine künstlerischen Ideen und die privaten Marotten vergolden zu lassen. Hin und wieder kippten die Verehrungen seines Mythos fast ins Kultische. Leben und Werk sind nicht deckungsgleich, aber auch nicht vonein­ander zu trennen, Vermächtnis und Verständnis ebenso wenig. Wagner stößt ab und zieht an, er kann anekeln und faszinieren.

Wie komplex der Umgang mit Wagners Musik und seinen Thesen im Deutschen Reich und in den Zeitschichten danach war, ist ein weiteres Filetstück in dieser Lektüre. Kaiser Wilhelm II. hatte noch gemäkelt, „Wagner liebe ich nicht, er ist mir zu geräuschvoll.“ Ein talentarmer Maler und Weltkriegssoldat aus Braunau sah das einige Jahre später ganz anders und ließ Propaganda-Aktionen seiner Schreckensherrschaft gern mit den dröhnendsten Bombast-Passagen unterlegen. Seitdem ist viel Hitler in Wagner. Aber genauso ist viel Wagner in den übermenschlichen Superhelden der Marvel-Comics, in futuristischen Stadt-Entwürfen, in „Herr der Ringe“, in Bugs-Bunny-Cartoons und „Star Wars“.

Die Wunde ist offen

Alex Ross’ Buch verabreicht eine Lektüre-Droge, die in diesem Herbst ungleich stärker ins Blut geht als sonst, weil die Opern von Wagner live, mit kompletter Besetzung und Publikum seit Monaten coronabedingt sein müssen, was sie zu dessen Lebzeiten oft waren: Dinge der Unmöglichkeit. Bleibt die Frage: Schuldig oder unschuldig? Ross ist klug genug, über die ebenso zwiespältige wie einzigartige Jahrhundertgestalt Wagner kein letztinstanzliches Urteil zu fällen. Wie bei Wagners visionärem „Tristan“-Akkord, einer Tür in die Moderne, kann sich die existenzielle Spannung, die er auslöst, in alle möglichen und unmöglichen Richtungen auflösen. Der Vorhang ist oben; die Wunde, wie die im „Parsifal“ besungene, ist offen.

  • Alex Ross „Die Welt nach Wagner“, übersetzt von Gloria Buschor und Günter Kotzor. Rowohlt, 912 Seiten, 40 Euro. „Listen To This“, übersetzt von Dieter Fuchs. Rowohlt, 432 S., 14 Euro.

  • „Der Ring des Nibelungen nach Richard Wagner“, Illustrationen von Martin Stark. Fünf Bilderbogen im Schuber. Büchergilde Gutenberg, 60 Euro.

  • Weiterführende Literatur, Musik-Beispiele, Videos auf Ross’ Homepage www.therestisnoise.com

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