Alles gegeben, doch bei der durchdacht inszenierten Salzburger “Bohème“ mit Anna Netrebko wollte das Publikum partout nicht auftauen.

Salzburg. Eine eiskalte Hand schreibt noch einmal, wie am Anfang, die vier Buchstaben, um die sich hier alles dreht, auf die riesengroßen, beschlagenen Fensterscheiben: "M I M I". Dann wischt sie sie weg - aus, vorbei, tot. Anna Netrebko liegt leblos auf der Matratze im Großen Festspielhaus. Glück und Oper zu Ende. Aber auch im Publikum bleiben die Hände eiskalt. Der Beifall schwingt sich nur mühsam auf zu sachtem Dauergeprassel.

Dabei war das ein so feines "Bohème"-Schlussbild. Anrührend. Effektvoll. Bekannt und doch neu, in diesem Zusammenhang. Keiner wollte hier Puccini-Schlendrian, Schmachtseligkeit, Schneekitsch. Und auch die mediale Starshow vor dem Haus blieb konsequent draußen. Hier galt's der Kunst. Anna Netrebko sah in ihrer ersten Salzburger szenischen Produktion seit sechs Jahren so verhuscht und mausgrau aus wie noch nie. Stand als Mimì dünnbeinig verloren rum, raffte nicht immer alles. Aber sie sang konzentriert, zart, wunderbar. Die gar nicht tuberkulosewunde Kehle weitend. Mit flutenden Dunkelsilbertönen, die warm und blühend waren, während die verhärmte Kunsthandwerkerin, die sie spielte, ihrem Nachbarn Rodolfo beim ausgegangenen Joint näherkam.

Keine Kerze, keine Häkelstola, kaum Paris. Bohème ohne Zauber, dafür mit mehr Kaurismäki. Nackt, nüchtern, nicht realistisch. Während Anna Netrebko sonst weltweit in Uralt-Inszenierungen des unsterblich herzerwärmenden Quartier-Latin-Heulers ihr eiskaltes Mimì-Händchen reibt, sollte diese zwischen Salzburg und Shanghai koproduzierte Prestigeproduktion den gern geschmähten Komponisten nicht zu festspielwürdig glänzen lassen. Man wollte lieber das Moderne, die filmartige Schnitttechnik. Doch das Publikum im Saal, die 5000 beim Public Viewing auf dem Salzburger Kapitelplatz, die Menschen vor den vier Fernsehsendern und in den 110 Kinos sollten auch schwelgen dürfen. Irgendwie hat es nicht funktioniert, obwohl fast alles richtig gemacht wurde.

Piotr Beczala war beim Tenortypberater und sein nur selten sich gehen lassender Dichter Rodolfo sah mit langem Zottelhaar, Nerdbrille und Jeans gar nicht mehr bieder aus. Er und die Netrebko harmonieren wunderbar im Timbre, beide sangen diszipliniert in sich gekehrt, keiner führte die Rampensau aus - es fehlt freilich die sich aufstachelnde Entäußerung, die einst die Paarung Netrebko/Villazón kennzeichnete, auch gerät Beczalas metallische Höhe immer wieder an Grenzen. Selbst das passte gut in dieses Konzept, wo Liebe bewusst auf Entfernung ausgelebt wird, wo nicht geschluchzt wird.

Der junge italienische Regisseur Damiano Michieletto hat in seiner aufgeräumt durchdachten Inszenierung wieder mal seinen Bühnenbildner Paolo Fantin dominieren lassen. Wie sich hier, in der kaltschnäuzigen Vorstadttristesse, die Charaktere emotional verpassen, einander entgleiten, das ist in seiner konsequenten, verdrucksten Beiläufigkeit ohne jede pauschale Operngestik traurig und zart zugleich.

Es ist noch mehr der Moment der Netrebko, die eigentlich nichts macht, die nur ist, Klang wird, wie man sie vielleicht seit den großen Tagen Mirella Frenis nicht mehr so edel und doch zurückgenommen gesungen erlebt hat. Das lässt sich dann auch im Finale nicht mehr intensivieren.

Vielleicht ist dies das Problem dieser ambitioniert teuren, aber auf Anti-Luxus Wert legenden Festspiel-"Bohème": Ein wenig sentimentalen Zeffirelli-Plüsch trägt ein jeder in einer verborgenen Herzenskammer. Und da darf bei diesem Prosaik-Puccini in der optischen Ausnüchterungszelle einfach nichts anschlagen. Was sich am Ende eben doch rächt.