Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker eröffnen mit Liszt, analysieren die Nachfahren Wagners und ihren “Familienmythos“.

Hitzacker. Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich, schrieb Leo Tolstoi im berühmten ersten Satz seines berühmten Romans "Anna Karenina". Glückliche Familien sind sich meist selbst genug, sie bringen nur selten große Kunst hervor. Um so größer ist die Neugier der normal sterblichen Unglücklichen auf das Unglück, das Pech, die Kämpfe und Verwerfungen in bedeutenden Künstlerfamilien. Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker, Deutschlands ältestes Kammermusikfestival und insbesondere unter der Ägide des nun scheidenden Intendanten Markus Fein mit einem weit überdurchschnittlich intelligenten Programm gesegnet, beleuchten dieser Tage den allseits geschätzten Begriff "Familienbande" auf vielfältige und spannende Weise.

Wie treffend das Wort die Zwangsnähe der Familienmitglieder und ihre daraus resultierenden Nickeligkeiten, Konflikte und Zerwürfnisse erfasst, erhellte Nike Wagners Festvortrag "Mythos Familie" zur Eröffnung am vergangenen Sonnabend. Nachdem sie die drei Leitmotive Vererbungssorge, Generationenkonflikte und Wiederholungsstrukturen als charakteristisch für jede Familie eingeführt hatte, blätterte die Urenkelin des Komponisten mit dem eleganten Spott der Intellektuellen das an Kostbarkeiten wie Gemeinheiten überreiche Familienalbum von Richard Wagner und seinen Nachfahren auf.

Dass sich in ihrer Person Distanz zum Gegenstand zwangsläufig reibt mit unmittelbarem Beteiligtsein, steigerte nur den Genuss und das Behagen ihrer Zuhörer. Die süßsaure Lästercousine mochte sich auch ein paar Florett-Seitenhiebe auf die so ungleichen Schwestern Katharina und Eva, nach dem Hinscheiden des greisen Patriarchen Wolfgang Wagner nunmehr Herrinnen auf dem Grünen Hügel von Bayreuth, keineswegs verkneifen.

Bei aller ausgeprägten Liebe zum Wort: Die Musik kam in Hitzacker nicht zu kurz. Obschon ein Kammermusikfestival, bestritt diesmal das Göttinger Symphonieorchester das Eröffnungsprogramm, im Klang wohltuend homogen und von Christoph-Mathias Mueller sensibel geführt. Wer so unprätentiös und differenziert musiziert, muss sich von niemandem Provinzorchester schimpfen lassen. Von Wagners Freund und späten Schwiegervater Franz Liszt spielten die Göttinger zunächst die "Ungarische Rhapsodie Nr. 2". Im Abendkonzert begleiteten sie dann den Pianisten Kyrill Gerstein, der die Noten des Klavierparts von Liszts "Totentanz - Paraphrase über Dies Irae" aus einem iPad abrief. Die virtuellen Seiten blätterte er über eine Bluetooth-Verbindung mit einem Fußpedal um.

So zeitgemäß das Verfahren, so spektakulär der Musiker. Gersteins frühe Prägung durch den Jazz hat ihn mit einer rhythmischen Power imprägniert, die seinem Liszt-Spiel ebenso zugutekommt wie seiner Interpretation des "Klavierkonzerts für die linke Hand" von Maurice Ravel. Gerstein spielte beide Stücke mit phänomenalem Drive, gleichzeitig blieb der subtile Klangsinn des Klassik-Puristen jederzeit gegenwärtig. Ein idealer Interpret; wer ihn hört, entdeckt im Klavierdonnerer und Tastenhexer Liszt lauter unerwartete Zwischentöne.

Die linke Hand als einzige dem Pianisten Paul Wittgenstein nach frühem Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg verbliebene erlebte im Matineekonzert am Sonntag eine weitere makabre, faszinierende Feierstunde. Unter dem Titel "Salon Wittgenstein" hatte Volker Hagedorn Klavierpiecen für Zwangslinkshänder eingerichtet und einen geistreichen Doppelvortrag über die Familie des österreichischen Großindustriellen Karl Wittgenstein, die neben dem Pianisten Paul den Philosophen Ludwig, drei Schwestern und drei durch Selbstmord früh verstorbene Brüder ins 20. Jahrhundert schickte.

Rolf Becker und Daphne Wagner, Nikes Schwester, lasen aus Briefen der Familienmitglieder und literarischen Quellen, dazu spielte das Kuss-Quartett aus Berlin mit dem Klarinettisten Sebastian Manz und dem Pianisten Cédric Pescia ausgewählte Musik von Bach bis Schönberg. Pures Hörglück auch hier.

Sorgen machen muss man sich in Hitzacker nur um den Nachwuchs - bei den Zuhörern. Der Silbersee hört hier zwar so gespannt und konzentriert zu, dass er ganze Sinfoniesätze lang das Husten vergisst. Aber gäbe es nicht wegen diverser Begleitprojekte ein paar junge Gesichter im Saal, das stolze Wort vom ältesten Kammermusikfestival Deutschlands bekäme einen beunruhigenden Nebensinn.