Spielbergs Kinofilm „Lincoln“ zeigt einen Staatsmann, der Vorbild für den heutigen US-Präsidenten Obama ist. Sie verbindet einiges.

Ohne Lincoln kein Obama. Hätte der 16. US-Präsident die Befreiung der Sklaven nicht in der Verfassung verankert, würde sein aktueller Nachfolger nicht als erster schwarzer Präsident amtieren können. Das ist eine steile These. Aber sie liegt nahe. Weil die Geschichte der USA sonst völlig anders verlaufen wäre.

Abraham Lincoln stellte im entscheidenden Moment die Weichen, um am 31. Januar 1865 im Repräsentantenhaus den 13. Zusatzartikel zur Verfassung mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit durchzubringen. Darin heißt es: "Weder Sklaverei noch Zwangsarbeit, ausgenommen als Strafe für ein Verbrechen aufgrund eines rechtmäßigen Urteils, sollen in den Vereinigten Staaten von Amerika und allen Orten, die ihrer Rechtsprechung unterliegen, existieren."

Damit wurde den abtrünnigen Südstaaten, deren Wirtschaft auf Baumwolle, Erdnüssen, Tabak und Zuckerrohr basierte, die Lebensgrundlage entzogen - Monate vor deren Kapitulation. Denn ohne Sklaven und mangels effizienter Maschinen war diese Plantagenwirtschaft nicht mehr rentabel.

Militärisch waren die elf Konföderierten Staaten von Amerika, die sich 1861 von der Union abgespalten hatten, nach vier Jahren Bürgerkrieg mit mehr als 600.000 Toten am Ende. Für Präsident Lincoln blieb nach seiner Wiederwahl im November 1864 daher nur ein winziges Zeitfenster. Denn nach dem Ende des Bürgerkrieges hätten niemals zwei Drittel der Abgeordneten für den 13. Zusatzartikel gestimmt. Zu viele damals noch erzkonservative Demokraten hätten sich auf die Seite des Südens geschlagen. "Lincoln hatte einen außergewöhnlichen Sinn für das richtige Timing: Wann ist welche Entscheidung zu fällen? Und wie ist die öffentliche Stimmung in diesem Moment?", erklärt die Historikerin Doris Kearns Goodwin, auf deren preisgekrönter Biografie "Team of Rivals" das Drehbuch für Steven Spielbergs Meisterwerk "Lincoln" basiert. Barack Obama zählt dieses Buch zu jener Lektüre, die er auf eine einsame Insel mitnehmen würde.

Überhaupt verbindet Obama viel mit seinem legendären Vorgänger. Beide Männer waren für den Bundesstaat Illinois im Senat. Beiden wurde vorgeworfen, dass sie viel zu jung und unerfahren seien für das Amt des US-Präsidenten (Obama war beim Amtsantritt 47, Lincoln 51 Jahre).

Schon bei der Bekanntgabe seiner Präsidentschaftskandidatur im Februar 2007 berief sich Obama auf Lincoln - und stand dabei auf den Stufen des alten Parlaments in Springfield, Illinois, wo Lincoln 149 Jahre zuvor zur Abschaffung der Sklaverei aufgerufen hatte. Zur ersten Amtseinführung 2009 brach Obama wie einst sein Vorbild mit dem Zug in Philadelphia auf. Die Feierlichkeiten in Washington begannen damals mit einem Besuch des Lincoln-Denkmals. Am vergangenen Montag schwor Obama auch seinen zweiten Amtseid auf Lincolns in weinroten Samt gebundene Bibel; darunter hielt Ehefrau Michelle diesmal zusätzlich die Bibel von Martin Luther King. In einem Interview erzählte Obama, er verbringe "viel Zeit damit, Lincoln zu lesen".

Doch was ist es, was den jetzigen demokratischen Präsidenten so am Republikaner Lincoln fasziniert? Was kann der Führer einer modernen Weltmacht von einem Mann lernen, der vor fast 204 Jahren als Sohn eines Farmers in einer fensterlosen Blockhütte in Kentucky geboren wurde? Blendet man Obamas politisches Kalkül aus, vom Heiligenschein des amerikanischen Übervaters zu profitieren, bleibt vor allem dessen beispielloses Krisenmanagement.

Dabei waren die Voraussetzungen für Lincolns Präsidentschaft katastrophal. Nur von 40 Prozent der Bürger gewählt, musste er von seinem Amtsvorgänger einen Staat im Chaos übernehmen: James Buchanan hatte keinerlei Anstrengungen mehr unternommen, den Bestand der Union zu sichern, und ließ das Land in einen Bürgerkrieg schlittern. Aus Protest gegen Lincolns Wahl spalteten sich sieben Südstaaten ab, gründeten vier Wochen vor seiner Amtseinführung die Konföderierten Staaten von Amerika mit Jefferson Davis als Präsidenten. Einen Monat nach Lincolns Amtsantritt griffen die Südstaaten ein Fort der Union an, der Krieg entbrannte, und vier weitere Bundesstaaten fielen von den USA ab.

Doch damit nicht genug: Lincoln war ein Außenseiter in den Machtzirkeln von Washington und galt als hinterwäldlerischer Provinzanwalt mit Zylinder und in zerknitterten Anzügen. 1858 lachte er in einem Interview über die hochtrabenden Pläne seiner Frau Mary, die ihm den Sprung ins Weiße Haus zutraute: "Stellen Sie sich bloß eine Figur wie mich als Präsidenten vor!"

Er hatte keinerlei Führungserfahrung. Minister seines Kabinetts, allen voran der im Rennen um die Kandidatur unterlegene William Seward, hielten den Mann aus dem Westen deshalb für eine Marionette, die sie leicht würden kontrollieren können.

Sie alle unterschätzten den autodidaktischen Farmersohn. "Was Lincoln erreichte, ist nach heutigen Maßstäben ein Wunder", urteilt der Autor Donald T. Phillips in seiner Analyse "Lincoln on Leadership". Als Kriegstreiber und Sklavereigegner von Südstaatlern und ihren Sympathisanten gehasst, führte er das gespaltene Land durch den Krieg und wurde 1864 wiedergewählt. Die einfachen Menschen im Norden verehrten Lincoln als Vaterfigur und bewunderten seine Bescheidenheit, seine Klugheit und seinen Gerechtigkeitssinn. Er war eine moralische Autorität.

Zugleich erwies sich Lincoln als taktisch kluger Pragmatiker der Macht. Er war überzeugt, dass ein Politiker nicht "pure ethische Prinzipien" vertreten dürfe, nur um sein Gewissen zu beruhigen, sondern er müsse bei seinen Entscheidungen scharfsinnig die Konsequenzen bedenken, um das Optimum an positiven Resultaten zu erreichen für die Menschen, die er vertrete.

Der große Emanzipator, wie er genannt wurde, war keineswegs frei von rassistischen Vorurteilen. Auch er war schließlich ein Kind seiner Zeit. Lincoln war ein widersprüchlicher, manchmal von depressiven Selbstzweifeln zerrissener Mensch. Der Schauspieler Daniel Day-Lewis lässt uns im Film "Lincoln" diese emotionale Last und die Verantwortung der Macht spüren.

Der Zeitungsherausgeber Horace Greeley warf dem Präsidenten 1862 vor, er sehe der Sklaverei tatenlos zu. Lincoln stellte klar: "Mein vordringliches Anliegen in dieser Auseinandersetzung ist, die Union zu erhalten, und ist nicht, die Sklaverei zu erhalten oder abzuschaffen." Für Historiker ein Beleg, dass bei Lincoln die Staatsräson Vorrang vor Menschenrechten hatte.

Das stimmt. Lincoln-Biograf Jörg Nagler schreibt: "Als Präsident war er an die Verfassung gebunden und konnte ohne rechtmäßigen Zusatz nicht einfach die Sklaverei abschaffen; als Oberbefehlshaber aber konnte er teilweise oder sogar völlig die Befreiung der Sklaven als kriegsnotwendige Maßnahme anordnen und damit die Säule des südstaatlichen Gesellschaftssystems zerstören." Hier zeigte sich wieder der nüchterne Verantwortungsethiker, der die Trumpfkarte der Emanzipation klug ausspielte. Lincoln wusste auch: Nur in einem Bundesstaat unter seiner Regierung würde es möglich sein, das Prinzip der Freiheit im Sinne der Unabhängigkeitserklärung zu verwirklichen.

Im letzten Passus des offenen Briefes an Greeley heißt es: "Ich habe hier mein Vorhaben entsprechend meiner Ansicht von meiner Amtspflicht umrissen, und ich beabsichtige keine Modifikation meines oft ausgedrückten persönlichen Wunsches, dass alle Menschen überall frei sein könnten." Am 9. April 1865 kapitulierte General Robert E. Lee, der Oberbefehlshaber der konföderierten Armee. Sechs Tage später starb Abraham Lincoln. Ein fanatischer Südstaatler hatte ihm bei einem Theaterbesuch in den Kopf geschossen. Wie hätten sich Freiheit und Gleichheit entwickelt, wenn dieser Präsident noch die zweite Amtszeit regiert hätte? Vielleicht wäre Obama dann nicht der erste afroamerikanische Präsident gewesen.