Weltpremiere mit Strahlkraft: Schwestern-Duo Coco Rosie präsentiert seine erste Tanzshow auf Kampnagel. “Freak Folk“ nennt sich ihre Musik.

Hamburg. Die Probebühne auf Kampnagel sieht genauso aus, wie man sich eine Probebühne vorstellt. An einer Kleiderstange baumeln Kostümteile und Federkopfschmuck. Auf zwei Herdplatten köchelt Undefinierbares vor sich hin. Tänzerin Leiomy Maldonado bereitet auf ihrem Stuhl wippend ihren Part vor, kaum jemand kennt sie, dabei gehört sie zu den begehrtesten Tänzerinnen der Welt: Sie ist eine Ikone des Vogue-Tanzens, das Madonna in ihrem Video einst berühmt machte.

Doch es ist kein "Alice in Wonderland", das hier geprobt wird. Dafür sind die Schwestern Bianca und Sierra Casady, die seit 2003 als Coco Rosie gemeinsam musizieren, auch nicht bekannt. Nein, hier steht gerade eine Weltpremiere bevor: "Nightshift - A Feeble Ballet" ("Nachtschicht - ein zerbrechliches Ballett"), die erste Tanzshow von Coco Rosie. Eine Premiere mit Strahlkraft, die beiden Vorstellungen heute und morgen auf Kampnagel sind bereits ausverkauft.

"Freak Folk" nennt sich die Musik der in Paris und New York lebenden Beatboxerin und Drummerin Bianca und der ausgebildeten Sopranistin Sierra Casady. Ihre Konzertabende erinnern manchmal an brüchige Kinderwelten, bevölkert von schlafwandelnden Pferden und Eulen, die Katzen hinterher jagen. Schon immer waren die Auftritte der Schwestern visuell mit Spielkram und allerlei fantastischen Instrumentarien aufgeladen. Damit avancierten die Töchter einer Künstlerin mit indianischen Wurzeln und eines Wanderpredigers zu Stars der Hippie-Boheme. Manch einer sieht in ihnen auch die Avantgarde-Nervensägen-Leerstelle neu besetzt. Nun erweitern sie ihre Kunst auf die ganz große Bühne.

Bianca Casady, genannt "Coco", räumt offen ein, mit zeitgenössischem Tanz bislang eher wenig Kontakt gehabt zu haben. Aber sie hat eine klare Vision, als Kuratorin einen Kreis von Künstlern unterschiedlicher Genres zu dirigieren. "Ich habe eine Geschichte im Kopf, an der ich ein Jahr lang gearbeitet habe", sagt sie bestimmt. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Sierra, genannt "Rosie",ordnet sich ihr und dem brasilianischen Choreografen Bino Sauitzvy diesmal als Tänzerin unter. Die Geschichte von "Nightshift" ist wie üblich bei Coco Rosie eine Geburt der Finsternis. Der Untertitel "A Feeble Ballet" deutet Fragilität an. Es geht um Arbeiter, die die ungeliebte "Graveyard Shift", die "Nachtschicht" übernehmen. "Die Geschichte handelt von Einsamkeit. Viele Menschen werden der Gesellschaft fremd und damit unsichtbar. Wir ignorieren sie. Wir geben ihnen keine Namen", sagt Casady. Zu diesen Außenseitern fühle sie sich hingezogen.

Hauptfigur ist ein Waisenkind, das zu einer Totengräberin heranwächst. "Es geht um jene Namenlosen, die unten leben, um ihre emotionale Welt", sagt Bianca Casady.

Auch eine Vogelscheuche tritt auf. Sie wird sich von ihrem angestammten Ort entfernen, eine Metamorphose durchlaufen und dem Kind begegnen. Das klingt, zugegeben, nach einem eher schwermütigen Abend. Hoffnung gibt es für die Figuren nur in der Transformation. Alle durchleben sie verschiedene Gestaltenwandlungen, erkunden verschiedene Seiten ihres Selbst. Erleben Erweiterungen ihres Bewusstseins.

Das vermischt sich auf der Bühne mit Elementen aus Magie und Übernatürlichem. "Der Abend ist spirituell aufgeladen, aber nicht religiös", sagt Bianca Casady. "Da ist Transzendenz drin, Schönheit und auch Komik." Eigentlich sei "Nightshift", sei der ganze Tanzabend, so etwas wie ein besonders ausführlich performter Song.

Tänzerin Leiomy Maldonado wird mit ihrem aus der Queer-Tradition, also dem Spiel mit den Geschlechterrollen, stammenden Vogue-Tanz einen Hauch New Yorker Underground hinzuaddieren. Bange ist der Künstlerin Bianca Casady nicht, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen: "Ich nehme gerne Vorhandenes und stelle es in einen neuen Kontext."

Im zweiten Teil des Abends wird Coco Rosie unter dem Titel "Die achte Nacht" aktuelle Songs spielen. Flankiert von bis zu 20 Musikern aus aller Welt, darunter die traditionell indische Band Rajasthan Roots. "Es wird Elemente von Trance beinhalten", überlegt Bianca Casady. "Vielleicht so eine Art poetischen Sufi-Tanz." Das Unerwartete, es ist den Schwestern von Coco Rosie gerade recht.