Eine bewegende Biografie beleuchtet das Leben des inhaftierten chinesischen Literaturprofessors und Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo.

Hamburg. Wer ist dieser Mann? Als am 8. Oktober 2010 das Nobelpreiskomitee in Oslo verkündet, der Friedensnobelpreis gehe an den Chinesen Liu Xiaobo, ist über den Geehrten immerhin etwas mehr bekannt als über so manchen Literaturnobelpreisträger aus exotischeren Gefilden. Man weiß, dass er Literaturprofessor war, mehrere Auslandsaufenthalte absolviert hat, dass er mit dem inneren Kreis der Demokratiebewegung von 1989 engen Kontakt hatte, die damals am 4. Juni am Tiananmen-Platz in Peking von der Armee niedergewalzt wurde - und dass er mit der im chinesischen Internet publizierten "Charta 08" die diktatorischen Machthaber bis aufs Blut gereizt hat. Und weltweit ist bekannt: Er sitzt für diesen Text aufgrund eines Willkürurteils elf Jahre in einem Provinzgefängnis wegen "Anstachelung zur Untergrabung der Staatsgewalt" - noch bis zum 21. Juni 2020. Dann ist er, wenn er bis dahin überlebt, 65 Jahre alt.

Ein langjähriger Freund richtet nun in einer Biografie ("Der Freiheit geopfert") den Scheinwerfer auf den Werdegang von Liu Xiaobo, dem das unbeugsame Anmahnen von Menschenrechten, demokratischen Freiheiten, Rechtssicherheit wichtiger ist als das persönliche Wohlergehen. Der exilchinesische Autor und Verleger Bei Ling hat dieses Buch geschrieben; sein Erscheinen bei der Buchmesse 2009 brachte in Frankfurt die offiziellen Vertreter des Gastlandes China zur Weißglut. Bei Ling gibt offen zu, dass er sich von Lius Ansichten "über manche Dinge und Menschen" inzwischen immer weiter entfernt habe. Das ist beim Lesen immer zu bedenken, denn auch unter chinesischen Dissidenten gibt es Rangeleien um den Platz in der öffentlichen Wahrnehmung. Auch machen viele nicht eindeutig zugeordnete Zitate ein Überprüfen der von Bei Ling beanspruchten Deutungshoheit schwierig.

Dennoch gibt sein Buch wichtige Hinweise darauf, wie Liu Xiaobo zu seiner kompromisslosen Haltung gekommen ist. Es schildert die Jugend des 1955 geborenen Professorensohns, dessen Schulzeit in die gewalttätigen Wirren der Kulturrevolution fällt. Seine Familie wird aufs Land verschickt. Liu durchleidet Ungerechtigkeiten und erfährt die Macht von Korruption, als um die Möglichkeit zur Rückkehr gerangelt wird. Er will die Kluft zwischen kommunistischen Heilsparolen und bitterer Wirklichkeit nie mehr übersehen.

Liu darf studieren, frisst sich durch Berge westlicher Literatur, promoviert, genießt die Freiheit außerhalb der Familie und wird rasch ein umschwärmtes Enfant terrible an der Universität. Ein Ruf, den er 1986 mit einer radikalen öffentlichen Kritik der modernen chinesischen Literatur auf einem Kongress festigt. Schon damals werden zwei Elemente seines Charakters sichtbar: ein unerschrockener, nie auf den Mainstream schielender, scharf analytischer und schnell strukturierender Geist - und eine gewisse Lust daran, im Mittelpunkt zu stehen. Der Mann, der im kleinen Kreis stottert und um Worte ringt, kann vor großem Publikum begeisternd reden. Er diskutiert gern mit seinen Studenten. Schnell wird klar, dass er die Parteilinie der Kommunisten nicht als seligmachend betrachtet.

Liu erhält Angebote für Gastprofessuren in Oslo und in den USA - er kommt nach Hawaii und New York. Am 22. April 1989 versuchen Studenten auf dem Platz des himmlischen Friedens der Regierung eine Petition mit Forderungen nach Demokratie und größeren Freiheiten zu überreichen - vergebens. Vier Tage später fliegt Liu Xiaobo aus dem sicheren New York nach Peking zurück. Es zieht ihn auf den Platz, er diskutiert mit den Studenten, er wird von der immer nervöser agierenden Regierung als Vermittler eingeladen, er organisiert einen Hungerstreik, um die Studenten zum Durchhalten zu ermutigen. Im letzten Augenblick, als die Armee nach blutigen Ausschreitungen ins Herz von Peking auf den Platz selbst vorrückt, versucht Liu im Angesicht von Panzerkanonen und Gewehrmündungen die Studenten zum friedlichen Abzug zu bewegen. Er verhandelt mit den Soldaten, die den letzten Studenten einen Weg vom Platz bahnen. Bei Ling schreibt, dass auf dem Platz selbst damals niemand getötet wurde. Die Schilderung der Vorgänge um die Tiananmen-Besetzung ist eindrucksvoll.

Liu hat die Chance, ins Ausland zu fliehen. Doch er bleibt. Und die Machthaber vergessen ihn nicht: Zwei Tage nach der Räumung des Platzes wird er inhaftiert, aus dem öffentlichen Dienst entlassen; Liu gilt als Drahtzieher der Tiananmen-Bewegung. Seine Bücher werden verboten, seine Ehe zerbricht. Im Januar 1991 wird er entlassen, unter Würdigung seiner Verdienste um den Abzug der Studenten. Liu schreibt Bücher, die im Ausland erscheinen.

Und auch er vergisst nicht. Er macht sich schwere Vorwürfe, die Studenten so lange zum Durchhalten bewegt zu haben; er versteht die Toten vom Juni 1989 als persönliche Schuld - ihnen widmet er 2010 seinen Nobelpreis. Und arbeitet mit scharfsichtigen politischen Analysen daran, diese Schuld abzutragen. Die Staatsmacht antwortet mit Hausarrest und drei Jahren Umerziehungslager, wo man mit sinnlosen Aufgaben versucht, sein Augenlicht zu ruinieren - Bohnen nach Farben sortieren, zum Beispiel.

Liu lernt Liu Xia kennen, eine junge Literatin und Künstlerin, sie wird seine zweite Frau und sein emotionaler Rückhalt in schweren Zeiten. Er wird Vorsitzender des unabhängigen chinesischen PEN-Clubs; seine Rolle als auch im Ausland zu hörendes Sprachrohr schützt ihn lange.

Doch nach der Veröffentlichung der "Charta 08", die sich am Beispiel der tschechischen "Charta 77" orientiert, trifft ihn die ganze Härte der aufgebrachten Regierung. Liu wird verhaftet, verschleppt, im Dezember 2009 wird ihm der Prozess gemacht. Elf Jahre lautet das Verdikt. Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo bleibt der Stuhl des Preisträgers leer.

Wer seine Äußerungen liest, spürt: Liu, der Charismatiker, Hitzkopf und Dickschädel, hat aus der anarchischen Planlosigkeit der Demokratiebewegung von 1989 gelernt. So wie er die Regierung kritisiert, so kritisiert er auch die Studenten: Sie seien noch weit davon entfernt, demokratische Prinzipien verstanden und verinnerlicht zu haben. Er plädiert für planvolle, mehrheitsfähige und gewaltlos erreichbare Veränderungen. Er hat sich, seine eigenen Fehler vor Augen, auf die Seite der Gerechtigkeit geschlagen - von da führt ein noch wenig benutzter Trampelpfad ziemlich direkt zu den Prinzipien von Demokratie und Bürgerfreiheit.

Liu hat das vielfach ausgesprochen, er wird niemals aufgeben, und er wird gehört - die Liste seiner Werke im Anhang ist eine wunderbare Handreichung für Übersetzer und Verlage. Das macht ihn für das Regime in Peking so beunruhigend - denn seine Ideen verschwinden nicht dadurch, dass ihr Urheber eingesperrt wird. Im Gegenteil.

Bei Ling: Der Freiheit geopfert - Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Riva Verlag, 364 Seiten, 19,95 Euro