Was ist das nur für eine Arbeitswelt, von der uns hier erzählt wird? Die namenlose Heldin dieses Romans erhält ihre Aufträge – oder „flüchtige Jobs“, wie sie sie nennt – in einer „Agentur in Uptown“. Was haben wir uns darunter vorzustellen? Einen „Palast voller pudrig duftender Frauen mit praktischen Schuhen und manikürten Händen, in die ich, so und nicht anders will es die Tradition, meine Erwerbstätigkeit lege“.
Und worin besteht diese? In Aufgaben, die einem seltsam verschobenen Paralleluniversum zu entstammen scheinen, wie man es oft in Träumen erlebt – und zugleich einer absurden Steigerungslogik gehorchen. Zuerst sind die Schuhe von Prominenten aus dem Showbusiness und danach die Fenster von Wolkenkratzern zu putzen, bevor sich die Heldin als „menschliche Ampel“ verdingt oder die Frau vertritt, „die sich jeden Tag ein Taxi aus dem Verkehr winkt, an der riesigen Kreuzung, na, Sie wissen schon“.
Nachrückende Generation wünscht sich Verbindlichkeit
Und als würden sie alle diese Jobs gerade dafür qualifizieren, erhält sie danach den Auftrag, den Vorstandsvorsitzenden eines Großkonzerns zu vertreten, für den sie fortan Dokumente gegenzeichnet, an Telefonkonferenzen teilnimmt und die Wände mit Werken der Kunststars von morgen tapeziert.
Von welcher Arbeitswelt wird hier also erzählt? Von unserer gegenwärtigen, auf herrlich abstruse, kluge und überdrehte Weise. Deren Mechanismen gelten auch in der Welt dieses Romans, in der die Erzählerin später als menschliche Seepocke, als Hilfskraft auf einem Piratenschiff oder als Gehilfin eines Mörders aktiv werden wird. Die in den Arbeitsmarkt nachrückende Generation hat sich mit der Bürde des nur zeitlich Befristeten, des immer nur Vorläufigen herumzuschlagen und umso größere Sehnsucht nach Verbindlichkeit.
Hilary Leichter unterrichtet fiktionales Schreiben
„Es heißt, dass sich schon bei den ersten Anzeichen von Entfristung der Herzschlag beschleunigt, einem das Blut in die Wangen schießt“, teilt die Erzählerin mit. „Ich habe sie alle gelesen, die Broschüren und Flugblätter. Manche Aushilfen schwören darauf, dass Schüttelfrost, Pulsrasen und Schweißausbrüche die ersten körperlichen Anzeichen einer nahenden Entfristung sind. Ich habe Angst, die Symptome meiner eigenen Entfristung zu verpassen, sie einfach zu übersehen. Sie nennen es auch: die Beständigkeit.“
Hilary Leichter muss man wegen ihres Geburtsjahres (1985) der Kohorte der Millennials zurechnen – allerdings mit einer dafür untypisch schnellen, konstanten Karriere. Sie studierte an der New Yorker Columbia University, wo sie heute fiktionales Schreiben unterrichtet, sie schrieb für den „New Yorker“, „The Cut“ und andere Magazine. Ihr Romandebüt wurde von der „New York Times“, der „Washington Post“, der „Los Angeles Times“ und auf ungezählten Literaturblogs im Netz gefeiert – als Parabel auf den Spätkapitalismus vor allem, in dem die Sinnfrage zugunsten von Selbstoptimierung, Flexibilität und Selbstaufopferung ausgeblendet scheint.
Heldin des Romans hat 18 feste Freunde
„Wer sich seine Entfristung verdienen will, muss seine Komfortzone ab und zu verlassen“, hört die Heldin von ihrer zuständigen Mitarbeiterin der Agentur. „Das ist deine Chance, Beständigkeit zu finden. Die Welt ist unendlich, und Arbeit ist, na ja, endlich eben, hab ich recht?“
Dass Leichter dies so gut gelingt, liegt vor allem daran, dass hier kein Klagelied gesummt, sondern eine Groteske geschmettert wird. Die Heldin des Romans taumelt durch die Geschichte wie über eine stark befahrene Autobahn, beseelt von der aussichtslosen Hoffnung, irgendwo aufspringen und mitfahren zu können. Sie ist auch privat im Provisorium zuhause: Das Karussell ihrer Beziehungen verzeichnet 18 feste Freunde, darunter ein ernster Freund, ein praktischer Freund, ein Gourmetfreund und viele andere mehr.
In den Dialogen sprüht ein ungekünstelter, schneller Witz
Zu ihnen allen kann sie nur sporadisch telefonischen Kontakt aufnehmen – woraufhin die Freunde sich die fehlende Nähe selbst organisieren und einen Lesezirkel gründen. In den Dialogen sprüht ein ungekünstelter, schneller Witz, den man sich auch im Drehbuch einer guten Comedyserie wie „Brooklyn 99“ vorstellen könnte.
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Aber es ist eben nicht nur ein lustiges Buch. Gregor Runge hat in seiner durchweg gelungenen Übersetzung die richtige Entscheidung getroffen, den Originaltitel „Temporary“ nicht wörtlich zu übersetzen – und dabei den Punkt voll getroffen. Unter der „Hauptsache“ ist die von der Berufseinsteigerin sehnlichst erstrebte Beständigkeit zu verstehen – ein Ideal, dem sie außerhalb des Berufslebens und mit personell reduziertem Liebesleben wohl schneller nahe käme als zwischen zwei Jobs als Schubladen-auf-und-zu-Zieherin und Flugblattverteilerin. Und je länger dieses Abenteuer dauert, desto mehr gerät das Ideal selbst ins Bröckeln: Was taugt es überhaupt in einem Dasein, das nun mal naturgemäß selbst befristet ist?
„Die Hauptsache“ bleibt im Gedächtnis
Fragen wie diese werden hier nicht mit moralischem Gestus aufgeworfen, sie ergeben sich von selbst und reißen immer wieder Lücken ins Spektakel. Das macht „Die Hauptsache“ zu einem Roman, der im Gedächtnis bleibt.
Hilary Leichter: „Die Hauptsache“, dt. von Gregor Runge, Arche Literatur Verlag, 224 Seiten, 20 Euro
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