Musik

Eine Pöbelrapperin rechnet ab – und sucht inneren Frieden

| Lesedauer: 8 Minuten
Mariybu rappt – allein, im Duo und im
Kollektiv Fe*Male Treasure.

Mariybu rappt – allein, im Duo und im Kollektiv Fe*Male Treasure.

Foto: Finna

Lieb und leise. Das war Marie einmal. Jetzt rappt sie sich frei vom Lieb-und-Leise-Sein. Doch kann die Musik ihre Wunden heilen?

Hamburg. Mariybu (27) steht mit dem Gesicht zur Wand. Die Künstlerin trägt einen kurzen, blonden Pixie Cut und einen übergroßen Kapuzenpulli. Die Arme zeigen zum Boden. Kerzengerade verharrt sie in ihrer selbstgebauten Kabine. An den Wänden hängt schwarzer Schaumstoff. Er schluckt den Hall. Den Nachdruck in ihren Worten. Sie sagt:

“Alle dachten, du wärst so ein nicer Typ.

Doch du hast Manipulieren nur zu gut geübt.

Ja, jetzt check ich, ich war damals nicht verliebt

und weiß endlich sowas hab‘ ich damals nicht verdient.”

Sie rappt die Zeilen. Immer wieder. Darin sucht sie ein Heilmittel gegen die alten Wunden. Von damals. Als ihr Ex-Freund mit ihr schlief, obwohl sie das nicht wollte. Damals hörte sie noch auf ihren bürgerlichen Namen. Da war sie noch Marie.

Feministische Texte gegen das Patriarchat

Statt den Mund aufzumachen, habe sie damals gefallen wollen, habe eine Rolle angenommen, sagt Mariybu. Sie war unsicher – sexuell und auch sonst. Das gehört schon so, dachte sie. Sie wusste nicht, was sie machen soll, stand damals im übertragenen Sinn mit dem Gesicht zur Wand. Da trug die blonde Frau noch enge Kleider statt übergroßer Kapuzenpullis, war im Schulchor und bekam von den Eltern Ärger, wenn sie ihre Nägel schwarz lackiert oder “Scheiße” gesagt hatte. Wenn sie laut gelacht, gesungen oder Widerworte gegeben hatte. Brich nicht aus, sei nicht laut! Das habe sie sich immer wieder eingeredet, sagt sie heute.

Der Ex-Freund, die Eltern, viele Freunde, sie hätten ihre Marie nur in der lieben und leisen Variante gemocht, sagt die Musikerin. Nicht in laut, vulgär und wütend. All das sei sie heute. Mehr noch: Sie ist "Pöbelrapperin". So nennen sich die Musikschaffenden in der Hamburger Szene, die mit feministischen Texten gegen das Patriarchat rappen.

Alltagssexismus und Klischees

“So verarbeite ich echt viel Scheiße”, schreibt Mariybu auf Instagram. Mit dem Lied rappt sie gegen den Ex-Freund an, der, wie sie sagt, sich nicht nur an ihr vergriffen habe:

“Du hast dir genommen, ohne einmal zu fragen.

Wir können nicht vergessen, auch nicht nach so vielen Jahren.

Damals noch so jung, wollte ich mich nicht beklagen.

Ich dachte, das muss so...”

Sie rechnet mit ihm ab. In anderen Liedern rappt sie über ihre strengen Eltern, über Alltagssexismus und Klischees. Wann und wie kam es zu dem Sinneswandel? Mariybu erzählt.

Juli 2012. Die blonde Frau geht den ersten Schritt, möchte Schluss machen mit alten Denkmustern. Deshalb zieht sie mit 18 Jahren von Zuhause aus. Ein kleiner Befreiungsschlag. “Ich konnte nicht mehr. Ich war everybody’s darling und sunshine. Keine Widerworte, weil das von mir erwartet wurde. Ich glaube, daran bin ich auch kaputt gegangen”, sagt die 27-Jährige heute. Auf Instagram schreibt sie auch, dass sie diese falsche und aufgesetzte Harmonie erdrückt habe.

Schlüsselerlebnis bei einem Konzert

Zu der Zeit hatte Marie noch nichts mit Hiphop zu tun – und schon gar nicht mit Pöbelrap, sagt sie. Monatelang habe sie gebraucht, um ihrem wirklichen Ich näher zu kommen. Erst ein Schlüsselerlebnis habe dann den Turbogang eingelegt.

Februar 2018. Die 24-Jährige besucht ein Konzert in der Rindermarkthalle, bei dem unter anderem die Künstlerinnen Finna und Hazcara auftreten. Finna rappt davon, dass die aufgesetzten Masken fallen müssen. Haszcara zeigt den Mittelfinger in die Menge, verharrt am Ende vom Lied in der Pose. Für Marie, damals noch mit langem Haar, ein Skandal! Darf Haszcara das? Ist das gut? Ist das schlecht? Sie ist sich nicht sicher. Im Kopf meldet sich die alte Stimme: Nicht ausbrechen, keine Widerworte geben! “Der Mittelfinger war mega krass für mich.” Doch die junge Frau hat Gänsehaut, fühlt sich zugehörig mitten in der feministischen Pöbelrap-Szene.

“Musikalischer Sand im Getriebe patriarchaler Strukturen”

Die Geste hat sie so stark beeindruckt, dass sie anfängt, einen Liedtext zu schreiben. Sie traut sich aber nicht, ihn jemandem vorzurappen. “Viel zu persönlich”, sagt Mariybu heute über die Lyrics. Die Zeilen behält sie für sich, dabei rappt sie heute offen über sexuellen Missbrauch. Die Botschaft in ihren Texten sei aber gleichgeblieben: “Lass dich einfach nicht von den Rollen beeinflussen und sei anders, wenn du anders sein willst.” Genau deshalb habe sie im August 2019 auch mit Finna und zwei weiteren Musikerinnen das Rap-Kollektiv Fe*Male Treasure (dt.geschlechterübergreifender Schatz) gegründet. Die Hamburger Gruppe sagt über sich, sie sei wie “musikalischer Sand im Getriebe patriarchaler Strukturen”. Später rasiert sie sich den Kopf kahl, ein Zeichen der Rebellion.

Juni 2020. Die Pöbelrapperin veröffentlicht unter dem Künstlernamen Mariybu ihr erstes Album. Es heißt “Δ PRESSION” (dt. Depression). Auf dem Cover zu sehen: Die Musikerin mit Mittelfinger und Zornesfalten auf der Nase.

Arbeit an ihrem neuen Album

Nun arbeitet sie an ihrem neuen Album, spricht Zeilen in ihrer selbstgebauten Tonkabine ein und bearbeitet die Songs am Computer. Das macht sie an einem Schreibtisch im WG-Wohnzimmer. Drumherum steht ein Mischer, ein Mini-Keyboard und zwei Boxen. Obendrauf brennen zwei weiße Stumpenkerzen. Es sieht so aus, als wäre der Schreibtisch ihr Altar.

Mariybu klickt ein paar Mal mit der Maus und drückt auf Play. Die Worte, die sie zuvor in der Kabine eingesprochen hat, dröhnen aus der Box:

“Du bist toxic. Seh ich deine Optic,

ist bei mir vorbei und dann kotz ich.”

Das Trommelfell schwingt mit dem Bass. “Yes!”, sagt sie. Dann holt sie ihren Mitbewohner ins Wohnzimmer, zeigt ihm die neue Rap-Passage. “Das war das, was ich dir heute Morgen noch gezeigt habe.” – “Der Bass ist viel besser”, sagt Daniel Waller (27).

Er kennt die Musikerin seit fünf Jahren und hat ihren Wandel miterlebt. “Am Anfang war Marie sehr anders, ein liebes Mädchen, das es jedem recht machen wollte”, bestätigt er. Über einen Audio-Schnipsel per Telegram-Nachricht hat er erfahren, dass sie rappt. Damals waren die beiden keine Mitbewohner. Dass Mariybu wütend ist und provoziert, weiß er. Das sei gesund, gerechtfertigt und gut. Was er sich noch wünscht? “Das letzte Stück Selbstsicherheit.” Denn manche Dinge würden seine Mitbewohnerin aus der Bahn werfen, sagt er. Ins Detail will er nicht gehen. “Zu persönlich.”

Der Ex, die Eltern, der Mittelfinger – all das hat Maries Wut angefacht, sie zur Rapperin Mariybu gemacht. Ob die Künstlerin dadurch privat mit der Vergangenheit abschließen, ihre Wunden heilen kann? Vielleicht. Sie sagt: “Sich von Strukturen und Denkmustern zu lösen, ist eine lebenslange Aufgabe. Ich habe krasse Schritte gemacht. Ich krieg mein Leben geschissen, mache Musik. Das ist das, was ich liebe.” Komplett verarbeitet hat sie ihre Vergangenheit offenbar noch nicht. Durch das neue Lied möchte sie aber mit ihrem Ex-Freund abschließen. Es wird in den nächsten Wochen veröffentlicht. Passagen hat sie bereits auf Instagram geteilt.