Hamburg. Das Streichorchester hat einen ungewöhnlichen Konzertfilm gedreht. Zu sehen ist er als Stream am 22. Januar.

Die Geigen bleiben im Koffer. Im hinteren Treppenhaus im Feldstraßen-Bunker ist es mit wenigen Graden über dem Gefrierpunkt sowieso zu kalt für die teuren Instrumente. Dick vermummelt sitzen hier vier Musiker vom Ensemble Resonanz (ER): Cellist Jörn Kellermann hat sich eine Mütze über die Ohren gezogen, Barbara Bultmann fröstelt trotz ihres Wintermantels, Gregor Dierck und David Schlage tragen dicke Schals, die das Spielen einer Violine sowieso unmöglich machen. Doch das Streichquartett hat sich versammelt, um Musik zu machen – ohne Instrumente. Vor ihnen liegt eine dicke Partitur mit dem Titel „Esercizio di pazzia II“. Der italienische Komponist Francesco Filidei hat sich diese „Studie des Wahnsinns“ ausgedacht, Noten brauchte er dafür nicht zu Papier zu bringen. Das Werk ist Basis für eine Performance.

„Ich mag Stücke ohne Instrumente“, sagt Juditha Haeberlin, virtuose Geigerin des Streichorchesters. Sie hat das ungewöhnliche Stück für das aktuelle „urban string“-Programm ausgewählt. Einmal im Monat führt das Ensemble Resonanz im Resonanzraum Stücke auf, die unter einem bestimmten Thema stehen. Ein vierköpfiges Gremium aus dem Ensemble plant die Konzertreihe. Für die aktuelle Auswahl ist Haeberlin verantwortlich. Im Zeichen der Corona-Pandemie eine besondere Herausforderung, denn vor Publikum kann das Ensemble Resonanz während des Lockdowns nicht spielen. „Wir haben schon Konzerte gestreamt, dieses Mal wollen wir noch einen Schritt weitergehen und produzieren das Programm als Film.“

Ensemble Resonanz ist bekannt für seine außergewöhnlichen Programme

Gespannt verfolgt Haeberlin von der Wendeltreppe im Bunker aus, was ihre Kollegen mit dem Filidei-Stück anstellen. Anfangs ist kaum etwas zu hören. Mit Verve werden die Seiten der Partitur umgeblättert, genauestens von Florian Schmuck verfolgt, der mit einer Videokamera das Geschehen einfängt. Dann steigert sich das Umblättern, wird zu einem Rascheln und bekommt einen immer schneller werdenden Rhythmus. Schlage setzt ein Blatt Papier an die Lippen und fängt an darauf zu blasen. Die schrillen Töne schmerzen in den Gehörgängen, die anderen drei Musiker fallen ein und versuchen sich darin zu überbieten, wer die grässlichsten Geräusche hinbekommt. Am Ende der Performance schlagen sich die Musiker die Partitur vor den Kopf – was wie ein lustiger Kommentar wirkt. Haeberlin ist begeistert von der Performance, ihre Kollegin Barbara Bultmann sagt später: „Das hat Spaß gemacht.“

Das Ensemble Resonanz ist bekannt für seine außergewöhnlichen Programme zwischen Alter und Neuer Musik. Bei ihrer Stückauswahl schlägt Haeberlin einen Bogen von der spanischen Frühklassik bis in die Gegenwart. Das verbindende Thema ist jedoch die Isolation des Einzelnen. „Schon während des ersten Lockdowns habe ich mich gefragt: Was kann ich allein machen?“ beschreibt Haeberlin­ ihre Überlegungen. Im Frühjahr fiel ihr Gerhard Stäblers Stück „Messenger of Spring“ für elektrische Solovioline und Licht ein, das aus neun kurzen Skizzen und Improvisationsanleitungen basierend auf einem Gedicht der antiken Dichterin Sappho besteht. Die Aufnahmen dazu existieren bereits und werden Teil des Konzertfilms, ergänzt durch Videoprojektionen der Partitur an die Wände im Treppenhaus des Bunkers.

Der Stream ist kostenlos, aber Spenden sind möglich

Haeberlins zweiter Gedanke waren nächtliche Spaziergänge. „Wenn die Nacht am tiefsten“, nach einem Song von Ton Steine Scherben, ist das Motto dieses „urban string“-Projekts. Statt einer Moderation für die insgesamt fünf Stücke ist Haeberlin mit ihrem Kollegen Tom Glöckner durch die nächtliche Stadt gelaufen und hat sich mit ihm über Themen wie Vereinzelung, Familie, Nacht und das Gehen unterhalten, immer begleitet von Florian Schmucks Kamera. „Wir wollen nicht Musik erklären, es geht um eine Geschichte, die ich transportieren möchte, und um unseren Blick auf die Nacht“, sagt die Geigerin.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Zum Team dieser Produktion gehört auch die Lichtdesignerin Annette ter Meulen vom Deutschen Schauspielhaus. Zusammen mit Schmuck ist sie für das Setting und die digitale Umwandlung eines Konzertes in ein anderes Medium verantwortlich. „Der Vorteil ist jetzt, dass wir inszenieren können“, sagt Haeberlin­. Cellistin Saerom Park spielt Gaspar Cassados „Preludio Fantasia“ im Fahrstuhl des Bunkers, die Elektronikkünstlerin Nika Son ist von ter Meulen in die enge Garderobe mit Spiegelwand im Resonanzraum gestellt worden, um starke Bilder zu generieren. „Die Musik bekommt durch diese Visualität einen besonderen Zauber“, sagt Haeberlin, die zusammen mit Barbara Bultmann den ersten Satz aus Luigi Nonos „Hay Que Caminar“ spielt.

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´Gezeigt wird der Film am 22. Januar von 19.30 Uhr an im Stream auf der Website des Ensembles Resonanz unter https://resonanz.digital. Der Eintritt in diese digitale Welt ist frei, die Resonanzler haben aber sogenannte Supporter-Tickets eingerichtet und hoffen auf freiwillige Spenden der Musikfreunde.
Allerdings: Trotz all der Möglichkeiten des Experimentierens und des Sich-Austobens vermissen Haeberlin und ihre Kollegen die Bühne: „Die Magie des Moments gibt es nur im Konzert.“