Hamburg. So klassisch schön rezitiert, in dieser Zeit, in der man sich nicht erst für 36 Jahre in einen Tübinger Turm zurückziehen muss, um zu verzweifeln, wie dieser Autor es tat; so vorgetragen, so gehört, war eine große Portion Hölderlin am Abend die reine Seelenmassage. Erst recht nach monatelanger Stille auf den Bühnen. Der Saal dunkel. Die Thalia-Bühne leer und kahl und nach oben offen. Nichts konnte ablenken, aber es gab auch nichts Halt. Die Reihen mit rund 300 Menschen nur luftig gefüllt.
Man war schon sehr unter sich im Thalia Theater, unfreiwillig in dieser Form und doch so was von freiwillig. Ein schmerzhaft schöner, leiser Saisonstart, in dem das gelesene Wort und die gespielte Musik Einspringer sein mussten für die erste Premiere. Das Bühnenbild hat im Kopf zu entstehen. Neben die Tür des eisernen Vorhangs hatte jemand mit Kreide, so dankbar wie theatertypisch rührend, „In Gedenken Peter Maertens 1931–2020“ geschrieben, als letzte dankbare Verbeugung vor der kürzlich gestorbenen Haus-Legende.
Versonnnen flackerndes Licht in diesem existenziellen Dunkel: Jens Harzer, dessen unverwechselbare Stimme nicht nur unterschwellig lebensmüde klingen kann, war das fünfte Instrument neben den zwei unterschiedlich besetzten Streichquartetten, die musikalische Querverbindungen zwischen Ton- und Wort-Dichtungen herstellen, wo es sie musikhistorisch nicht gibt. Schöne Kontrapunkte also zum komponierten Text.
Zunächst, zur Einstimmung auf den Innenblick des schönheitsseligen, grüblerischen Hyperion, spielten sie zwei Sätze aus Fanny Hensels Es-Dur-Quartett, tiefe, ernste Kammermusik, gutbürgerlich und wohldurchdacht. Dass nicht alle Melodiebögen im Adagio klar kamen und rund liefen, ließ sich gut verschmerzen, es gibt ja Wichtigeres als dieses ständige Perfektionsstreben. Für das Wichtigere sorgte danach Harzer, der frei nach Hölderlin aus dem Schatten ins Offene kam wie der Freund, den man viel zu lang nicht gesehen hatte.
Dort also las und las und las er so vor sich hin
Dort also las und las und las er so vor sich hin, die von Gedanken zu Gedanken mäandernden Eindrücke Hölderlins aus dem sonnigen Griechenland, die er seinem Freund Bellarmin schrieb. Das ging, auch weil es so elegisch klang, so leicht runter wie der vierte Ouzo. Seins-Beschreibungen, die sich von Harzer wunderbar harzern ließen, mit dieser Stimme, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann wie das Licht die Motte, die sich noch einen schönen letzten Moment im Hellen machen möchte.
Beethoven und Hölderlin, beide 1770 geboren und also beide Jubilare dieses Jahres, kannten sich nicht, und seine berühmte Anmerkung „Muss es sein? – Es muss sein!“ schrieb Beethoven auch erst ins 16. und nicht in das 14. Quartett, aus dem hier immerhin der Kopfsatz gespielt wurde. Dennoch passte Beethovens tiefenbohrende Sinnsuche wunderbar zu Hölderlins besinnlicher Welt-Sinn-Bestaunung. Die Musik bäumte sich schwermütig gegen das Schicksal auf, das Quartett kam tapfer bis an seine Grenzen. Der Rezitator Harzer, der zunächst eine Spur zu energisch, zu eindeutig in die Textpassagen gegangen war, hatte inzwischen seinen Ruhepuls gefunden und genoss das Auskosten von Betonungen, Pausen und kleinen Schwankungen im Fluss der Worte.
Mit Georg Friedrich Haas’ Cello-Monolog „... aus freier Lust … verbunden ...“ – ein „Hyperion“-Zitat, klar – setzte die Resonanzer-Cellistin Saerom Park das öffentliche Selbstgespräch des Roman-Erzählers mit ihren instrumentalen Mitteln fort. Sie fantasierte sich, jenseits eindeutiger Vorgaben, minutenlang durch eine abstrakte Welt aus Klang-Skizzen und Zwischentönen.
Großer, dankbarer Beifall für Ensemble und Spreche
Und mit dem sechsten, letzten Satz aus Alban Bergs „Lyrischer Suite“ schaffte es das Quartett sogar, eine kleine, fein ausgewählte Anspielung auf Hyperions Gefühlsverwirrung anklingen zu lassen. Denn Berg zitiert in seinem „Largo desolato“ (sehr hölderlinig, diese Satzbezeichnung …) Wagners „Tristan“-Akkord. Jenen unfassbaren gespannten Klang, der sich harmonisch in alle Richtungen auflösen könnte. Und damit für ähnlich fundamentale Verwirrung und Verstörung sorgt wie die vielen Texte des Eremiten aus Tübingen, der am Ende des 18. Jahrhunderts zeitlos poetisch über einen „Eremiten aus Griechenland“ schrieb.
Großer, dankbarer Beifall für Ensemble und Sprecher nach dieser Leistung, was auch sonst. Auch für das Nachspiel stand Hölderlin indirekt Pate, denn Thalia-Intendant Lux lud von der Bühne (ohne ein „Kommt! Ins Freie, Freunde!“) zur Saisonstart-Feier nach draußen, auf den spätabendlichen Gerhart-Hauptmann-Platz. Seltsame Zeiten, gerade.
Konzerte: 8. September, 18.30 / 21 Uhr: Elbphilharmonie, Großer Saal: Jens Harzer und das Ensemble Resonanz mit Werken von Zender und Beethoven. Dirigent: Riccardo Minasi. Am 30. September wird die „Hyperion“-Lesung, dann ohne Musik, im Thalia wiederholt.
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