Hamburg. Kunst im öffentlichen Raum ist eine Alternative zur kulturfreien Lockdown-Zeit. Man muss die Arbeiten nur entdecken.

Und plötzlich fällt sie einem auf. Eine nackte Frau, die sich sonnt, direkt am Stephansplatz, verkehrsumtost, aber am Eingang zur Parkanlage Planten un Blomen. Edgar Augustins Skulptur „Die Liegende“ ist typisch für den Naturalismus der Siebzigerjahre: ein Rückgriff auf Körperdarstellungen des Expressionismus, aber geprägt von einer gewissen Leichtigkeit, ohne das Pathos der Vorgänger, sondern voll halb sinnlicher, halb unbekümmerter Nonchalance. Gleichzeitig schafft Augustin mit der „Liegenden“ auch eine Verbindung zwischen den Sphären: auf der einen Seite die Hektik der Großstadt, der Verkehr auf dem Dammtorwall, auf der anderen die grüne Oase des Parks, in den die sanft Dahingegossene einlädt. Ein schönes Kunstwerk, an dem man oftmals vorbeihastet.

Die Museen und Kunsthäuser sind geschlossen, zum Schutz vor der Corona-Pandemie wahrscheinlich noch für längere Zeit. Ein Verlust. Wenn man gerade also nicht ins Museum kann, sollte man sich vielleicht auf Kunst im öffentlichen Raum konzentrieren? Gute Idee. Aber: Was ist „Kunst im öffentlichen Raum“ eigentlich? Die Abgrenzung ist schwer, zur Architektur, zur Gebrauchskunst. Ein Denkmal mag ästhetische Qualität haben, am Ende bleibt es aber immer ein Verweis auf die Geschichte. Ein Gebäude mag architektonisch interessant sein, es bleibt aber ein Gebäude. Und eine Grabstätte mag künstlerisch reizvoll sein, sie bleibt dennoch ein Grab. Kunst hingegen zieht ihre Bedeutung aus sich selbst, nicht jedes öffentlich zugängliche Werk kann als Kunst im öffentlichen Raum klassifiziert werden. Das allerdings macht die Suche problematisch: Weil immer wieder andere Definitionen genannt werden, kann einem niemand genau sagen, wo man ein Kunstwerk im öffentlichen Raum findet.

Am einfachsten macht man es sich, wenn man Werke sucht, die explizit als „Kunst im öffentlichen Raum“ gefördert wurden. Von 1980 an setzte Kulturamtsleiter Volker Plagemann in Hamburg durch, dass das Programm „Kunst am Bau“, das häufig qualitativ fragwürdige Projekte förderte, zu einer Förderung für Arbeiten im öffentlichen Raum umgewidmet wurde. Problem dabei: Man hat es ausschließlich mit Zeitgenössischem zu tun. Aber es ist ein Anfang.

In der Neustadt findet sich ein echter Banksy

Zumal das Zeitgenössische im öffentlichen Raum oft in Verbindung zur Geschichte steht. Vor der Kunsthalle etwa findet man „Kleiner Zyklop“, eine 1967 entstandene Stahlskulptur des Schweizers Hans Bernhard Luginbühl. Das Objekt ist, anders als der Titel suggeriert, ein alles andere als kleines Monstrum, das im Dialog steht mit Hermann Hahns „Kleinem Reiter“ (1908) direkt daneben. Und wenn man sich schon vor der Kunsthalle befindet, dann entdeckt man an einer Wand das wahrscheinlich jüngste Kunstwerk im öffentlichen Raum der Stadt: ein Graffito, auf dem ein maskierter Mensch zu sehen ist, der einem Gemälde entsteigt. Das anonyme und titellose Werk ist eine Übertragung des Trompe-l’œil „Flucht vor der Kritik“ von Pere Borell del Caso (1874) in die Gegenwart – eine kunsthistorische Spielerei. Aber eine charmante. Die Leitung der Kunsthalle jedenfalls reagierte souverän auf das Gemälde an ihrer Hauswand und interpretierte sie nicht als Sachbeschädigung, sondern als Hommage.

Stephan Balkenhol ist präsent in der Stadt. Sein Kunstwerk „Mann und Frau“ steht am Hühnerposten
Stephan Balkenhol ist präsent in der Stadt. Sein Kunstwerk „Mann und Frau“ steht am Hühnerposten © Marcelo Hernandez

Kurz wurde gemutmaßt, dass das Graffito vom Street-Art-Superstar Banksy stammen könnte. Das ist eher unwahrscheinlich, allerdings findet man in Hamburg tatsächlich einen echten Banksy: In der Neustadt ist eine frühe Arbeit des Briten zu sehen, ein Stencil namens „Bomb Hugger“, das an einen Betonpfeiler in der Steinwegpassage gesprüht wurde. Ein paar Meter entfernt übrigens findet sich ein zweites Exemplar desselben Motivs, allerdings mit dem Zusatz „Fake“, „Fälschung“. Die Aura des Kunstwerks wird hier konsequent in Frage gestellt, die Authentizität des Gezeigten ebenfalls.

Kunst an Orten, wo man sie nicht sofort erwarten würde

Aber es geht nicht nur um Banksy, in der Stadt findet man einige Werke von Stars der Kunstwelt – seien es Stephan Balkenhols fünf Meter große Holzskulpturen „Mann und Frau“ vor dem Eingang zur Zentralbibliothek am Hühnerposten, sei es Richard Serras wuchtiges Stahlobjekt „T.W.U.“ (1980) hinter den Deichtorhallen, sei es Max Bills geisterhafte Figur „Rhythmus im Raum“ (1947–48) am Alsterufer. Das sind Arbeiten, deren Qualität niemand in Frage stellt, die allerdings als Kunst im öffentlichen Raum ein wenig offensichtlich sind.

Hans Martin Ruwoldts Panther in Planten und Blomen.
Hans Martin Ruwoldts Panther in Planten und Blomen. © Marcelo Hernandez

Spannender wird es, wenn man die Kunst an Orten entdeckt, wo man sie nicht sofort erwarten würde: Am östlichen Stadtrand in Mümmelmannsberg etwa. Hier, in der Großsiedlung der Siebzigerjahre, wurden Mittel aus dem „Kunst am Bau“-Programm konsequent in Kunst im öffentlichen Raum investiert, das Ergebnis ist der „Skulpturenhof Mümmelmannsberg“. Auf einer Freifläche zwischen Plattenbauten findet man mittlerweile 20 Kunstwerke unterschiedlicher Stile und unterschiedlicher Qualität. Es geht dabei nicht um Prestigegewinn in der Kunstszene, sondern um eine Verknüpfung der Kunst in die multikulturelle Umgebung hinein. Wobei das nicht heißen soll, dass man hier nicht auch große Namen findet, Edwin Scharff oder Gustav Seitz etwa.

Kunst im öffentlichen Raum muss sich stärker öffentlicher Kritik stellen als Kunst im Museum

Aber eben auch eine Arbeit der Anwohnerin Nina Mariko Ehmke: „Wut im Bauch“ (2002), eine weibliche Skulptur, die an die Frauenfiguren der auch in Hamburg präsenten Französin Niki de Saint Phalle erinnert. Oder die provokante Arbeit „Offenes Atelier“ (1982) von Thomas Peiter: ein leerer Marmorsockel, auf den eine kleine Leiter führt. Und auf dem Sockel liest man Sätze wie „Stell dich ruhig mal drauf“ und „Du bist das größte Kunstwerk, das diese Erde beherbergt.“ Ein Unbekannter kommentierte das mit dem Schriftzug „Schlechter Scherz“: Kunst im öffentlichen Raum muss sich weit stärker öffentlicher Kritik stellen als Kunst im Museum.

Gerhard Marcks‘ Skulptur auf
dem Friedhof Ohlsdorf.
Gerhard Marcks‘ Skulptur auf dem Friedhof Ohlsdorf. © Marcelo Hernandez

Auch von Edgar Augustin, der die „Liegende“ am Eingang zu Planten un Blomen geschaffen hat, steht eine Arbeit im Skulpturenhof: „Drei Figuren“ (1981), düsterer, verrätselter als der Akt in der Innenstadt. Nach und nach stellt sich eine Kartografie des Stadtraums ein, nach und nach nimmt man Hamburg über die öffentlich präsente Kunst wahr: Man findet ganz im Osten eine Augustin-Skulptur, dann geht man durch die Innenstadt, wo mehrere Arbeiten des 1996 gestorbenen Künstlers stehen, und entdeckt schließlich eine letzte Figur ganz im Westen, „Liegender weiblicher Akt“ (1968) im Osdorfer Born.

Auch auf dem Friedhof ist Kunst zu finden

Oder: Man sieht Gerhard Marcks Figurengruppe „Prophet und Genius“ (1961) auf dem Ohlsdorfer Friedhof, geht weiter zu Klaus Bösselmanns Stahlobjekt „Werden, Sein, Vergehen“ (1980) am Eingang zum anonymen Urnenhain, um schließlich Ludwig Wincks „Aufspringenden Hund“ (1864) im Stadtpark zu entdecken – eine Bronzeskulptur, die ursprünglich auf dem heute aufgegebenen Friedhof St. Nikolai am Dammtor stand.

Der „Kleine Zyklop“ von Bernhard
Luginbühl steht vor
der Kunsthalle.
Der „Kleine Zyklop“ von Bernhard Luginbühl steht vor der Kunsthalle. © Marcelo Hernandez

Mit etwas Geschick lassen sich so kunsthistorische Touren durch die Stadt zusammenstellen – einen lückenlosen Überblick über Kunst im öffentlichen Raum gibt es nicht für Hamburg, im Netz findet man aber mehrere thematische Seiten wie den interaktiven Stadtplan www.kulturkarte.de oder das Lexikon www.sh-kunst.de, das sowohl Hamburg wie auch Schleswig-Holstein abdeckt.

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Aber Vorsicht: Wie der öffentliche Raum ständiger Veränderung unterworfen ist, so läuft auch die Kunst im öffentlichen Raum Gefahr, nicht von Dauer zu sein. Die Installation „Hauptbahnhof Nord“ (1994) von Stephan Huber und Raimund Kummer etwa befindet sich in einem nie in Betrieb genommenen U-Bahn-Tunnel der titelgebenden Station. Wenn allerdings die Linie U5 Ende des Jahrzehnts in Betrieb genommen wird, sollen Züge durch diesen Tunnel fahren – und die Kunst wird verschwinden. Beziehungsweise: sich neue Orte im öffentlichen Raum suchen.

Weitere Infos: www.kulturkarte.de oder das Lexikon www.sh-kunst.de