Hamburg. Zahlreiche Kulturschaffende haben sich mit diesem Offenen Brief, der dem Abendblatt exklusiv vorliegt, an Bürgermeister Tschentscher gewandt.

Sehr geehrter Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, sehr geehrter Peter Tschentscher,

Lassen Sie die Kultur leben!

Auch wir, Kulturschaffende in Hamburg, sind uns bewusst, dass einschneidende und schmerzhafte Maßnahmen nötig sind, um die steigenden Infektionszahlen in der Pandemie zu reduzieren. Es ist keine Frage, dass die zweite Corona-Welle in diesen Wochen solche Maßnahmen verlangt.

Während des ersten Lockdowns haben wir unsere Kultur-Häuser geradezu zu „Hochsicherheits-Zentren“ umgebaut, haben Geld, Zeit und Energie eingesetzt, um den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt auch in dieser Krisenzeit gefahrlos Kulturerlebnisse zu ermöglichen.

Obwohl es keine Zweifel an der Sicherheit eines Theater-, Konzert-, Opern-, Kino- oder Museumsbesuches gab und gibt, wie selbst der Hamburger Kultursenator uns noch kurz vorher bestätigt hat, wurden wir gemeinsam mit Freizeiteinrichtungen unterschiedlichster Art am 2. November erneut in den Lockdown geschickt. Die Zuordnung zu „Freizeiteinrichtungen“ hat verständlicherweise tiefgreifende Verstimmungen in der Kulturszene ausgelöst. Wir fühlten uns hier sehr grundsätzlich missverstanden.

Darüber hinaus: Wenn Kunst, Kultur und Bildung dort verortet werden, so die Befürchtung, werden wir nicht nur als Erste wieder geschlossen, sondern auch als Letzte und nach allen anderen wieder geöffnet. Dies würde insbesondere die freie Kultur trotz staatlicher Hilfsangebote – und wir haben nicht vergessen, wie sich gerade die Hamburger Behörde Kultur und Medien für die Kultur ihrer Stadt eingesetzt hat – endgültig in den wirtschaftlichen Ruin treiben.

Wir sind sehr froh, dass im soeben vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Infektionsschutzgesetz Kultureinrichtungen als Orte von Kunst, Kultur und Bildung endlich eigenständig betrachtet werden. Explizit gestärkt wird dort der Rang der Kultur durch den Verweis auf die im Grundgesetz verankerten Grundrechte, hier insbesondere den Artikel 5 Absatz 3 zur Freiheit der Kunst. Grundrechte unterliegen wie das Recht der Versammlungsfreiheit, der Religionsausübung oder der Meinungsäußerung einem besonderen Schutz. Ihre Aufhebung braucht also – ebenso wie das nicht infrage gestellte Recht der freien Religionsausübung – eine besondere Begründung.

Das ist ein großer und längst überfälliger Schritt! Notwendig ist es nun, diese substanzielle Veränderung auch öffentlich zu machen, denn dieser Schritt darf nicht folgenlos bleiben:

Wir bitten Sie, sich dafür einzusetzen, dass der vom Gesetzgeber selbst formulierte Rang von Kunst, Kultur und Bildung bei den unmittelbar bevorstehenden politischen Beschlüssen tatsächlich Berücksichtigung findet.

Im Sinne von transparenten und gerechten Kriterien kann es nicht sein, dass der Erwerb nicht unmittelbar notwendiger Konsumartikel in Kaufhäusern höher gewichtet wird als die Versorgung mit Bildung, Kunst und Kultur. Der Hinweis, ein Besuch von Kultureinrichtungen möge zwar sicher sein, der Weg dorthin mit öffentlichen Verkehrsmitteln sei es aber nicht, dürfte angesichts der neuen Gesetzeslage künftig nicht mehr ausreichen.

Auch in Krisenzeiten ist ein Mindestmaß an sozialem, kulturellem und gesellschaftlichem Leben unverzichtbar. Wir wollen für die Gesellschaft, für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in Hamburg gerade in dieser schwierigen Zeit da sein. Genauso, wie Sie das Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften auch zugestehen. Auch wir wollen Freude, Zuversicht und Trost spenden. Wir wollen dem „weniger Kontakt“ ein „mehr Zuwendung“ an die Seite stellen. Kultur stabilisiert die Gemeinschaft und stärkt den Einzelnen.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Tschentscher, wir bitten Sie nachdrücklich:

Setzen Sie sich beim nächsten Treffen mit der Kanzlerin und Ihren Kolleginnen und Kollegen der anderen Länder dafür ein, dass Kultur- und Bildungseinrichtungen wie Opern, Theater, Konzertsäle, Kinos und Museen zügig wieder geöffnet werden. Nehmen wir alle gemeinsam unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung ernst!

Es unterzeichnen:

Musik:

  • Thomas Hengelbrock, Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble
  • Alan Gilbert, NDR Elbphilharmonie Orchester
  • Kent Nagano, Staatsoper
  • Ensemble Resonanz
  • Christoph Lieben-Seutter, Elbphilharmonie und Laeiszhalle

Theater:

  • Joachim Lux, Thalia Theater
  • Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus
  • Ulrich Waller / Thomas Collien, St. Pauli Theater
  • Amelie Deuflhard, Kampnagel

Museum:

  • Alexander Klar, Hamburger Kunsthalle
  • Tulga Beyerle / Udo Goerke, Museum für Kunst und Gewerbe
  • Dirk Luckow, Deichtorhallen

Kunstverein Hamburg:

  • Bettina Steinbrügge

Film / Kino:

  • Albert Wiederspiel, Filmfest Hamburg