„Der Klassik-Kanon“: Darf es denn mal klassische Musik sein?

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Abendblatt-Musikkritiker Joachim Mischke präsentiert 44 Komponisten und Komponistinnen. Sechs Kapitel-Auszüge zum Neugierigwerden.

Hamburg. Bach oder Wagner? Monteverdi oder Mozart? Brahms oder Schönberg? Berg oder Beethoven? Cage oder Glass? Vivaldi oder Verdi? Am besten: alle. Abendblatt-Musikkritiker Joachim Mischke hat in seinem neuen Buch „Der Klassik-Kanon“ eine subjektive Auswahl getroffen und präsentiert 44 Komponisten und Komponistinnen, verbunden mit Hör-Empfehlungen. Manche von ihnen wurden in Hamburg geboren, andere haben hier Musikgeschichte geschrieben. Lesen Sie sechs Kapitel-Auszüge zum Neugierigwerden.

Johannes Brahms

Brahms kann man nicht nebenbei weghören. Das perlt nicht schnell ab, selbst dann nicht, wenn seine Musik aufleuchten lässt, wie schwer sie ist. Das geht sofort ganz tief rein. Mozart, da ginge einiges auch mit nur einem Ohr, bei Vivaldi vieles. Aber diese gemütsnorddeutsche Musik des gebürtigen Hamburgers, die verkümmert und zerfällt, wenn man sich ihr nur halbherzig zuwendet.

„Er könnte ein so guter Klavierspieler sein, aber er will das ewige Komponieren nicht lassen“, soll sein erster Lehrer über den kleinen Brahms gesagt haben. Der schönste, aber auch der anstrengendste Charakterzug des erwachsenen Brahms beim Komponieren? Die Fähigkeit zum Mitfühlen. Sehr oft ist seine Musik – das gelang ihm auch unter Dur-Vorzeichen – brutal traurig, trotzig oder aufbäumend. Man kann ein Stück von Brahms hören und spüren, dass man erkannt wird. Dass Schwächen Stärken sein können. Je später der Brahms, desto eindringlicher der Effekt. Kein Wunder, dass der bärbeißige Kauz sich mit 45 hinter einem Rauschebart, einer überstattlichen Figur und Zigarrenrauchwolken verschanzte und von dort aus sarkastisch austeilte. Harte Schale, butterweicher Kern. Brahms, der sich selbst als „Abseiter“ bezeichnete, unterstützte großzügig Freunde wie den Komponisten Antonín Dvořák und konnte sich, als wäre er noch ein Hamburger Jung, für Zinnsoldaten begeistern.

Seine Musik liebt die melancholische Mehrdeutigkeit

„Er hat gewiss eine geheime innere Welt“, schrieb seine Seelenfreundin Clara Schumann, „er nimmt alles Schöne in sich auf und zehrt nun innerlich davon.“ Wie anrührend, ehrlich und wichtig Brahms’ Musiksprache ist, haben seine Zeitgenossen verstanden. Schon zu Lebzeiten wurde er als Gefühlsriese bewundert, auf Augenhöhe mit den zwei anderen großen Bs, Bach und Beethoven, nicht erst posthum.

Dass Brahms 1897 starb, macht ihn lediglich chronologisch zum sehr späten Bilderbuchspätromantiker. Denn obwohl er ein Traditionalist war, der seine alten Meister kannte und ehrte, wurde er immer radikaler im Umgang mit seinem musikalischen Vokabular. Im Ästhetikstreit mit den „Neudeutschen“ wie Liszt und Wagner war Brahms ein Gegner dieser „Zukunftsmusiker“, er wollte „dauerhafte Musik“.

Ausgerechnet der Zwölftontheoretiker Arnold Schönberg war es, der den gutbürgerlichen Vorgänger ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod als „Brahms, den Progressiven“ verstand und zum Vorbild für die Avantgarde erklärte. Die wäre sonst nie darauf gekommen, Brahms’ Arbeit der „entwickelnden Variation“ mit kleinen musikalischen Ideen für fortschrittlich zu halten. Ein Musterbeispiel dafür ist der Beginn der Vierten Sinfonie, bei dem Brahms den musikalischen Gedanken aus einer Terzenfolge aufbaut, um aus dem so ziemlich kleinstmöglichen Einfall etwas Episches zu schaffen.

Brahms hat das Wiegenlied („Guten Abend, gut’ Nacht“) komponiert, aber keine Oper. Die Musiktheaterbühne war nicht seine Welt, Brahms hat sich energisch im Formenkanon seiner Vorgänger und Vorbilder bewegt: Sinfonien, große Konzerte, Kammermusik, Klaviermusik, Chorwerke, Lieder. Nichts plakativ Neumodisches wie eine Sinfonische Dichtung. Absolute Musik. Absolute Beherrschung des Handwerks, mit Tönen eine Geschichte zu erzählen. Welche, diese Fantasieleistung überließ Brahms seinem Publikum. Seine Musik, die oft frühherbstlich wirkt und elegisch vergrübelt, liebt die melancholische Mehrdeutigkeit, die Andeutung, den schattigen Zwischenzustand, das unausgesprochen Belassene. Andere Komponisten – allen voran sein Idol Beethoven – wollten wieder und wieder mit dem Kopf durch die Wand. Wollten das Schicksal niederringen. Brahms war da anders. Resignation und ein halbes, leicht skeptisches Lächeln, nur ganz kurz, damit man die kommende Träne übersieht. Auch ein zweiter Sieger hat bei Brahms immer noch etwas gewonnen.

„Ich werde nie eine Symphonie komponieren!“, fluchte der selbstkritische Perfektionist 1870, in der Mitte seines erfolgreichen Lebens, in einem Brief an einen befreundeten Dirigenten. „Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer einen Riesen hinter sich marschieren hört.“ Diesen Riesen hatte er sich in seiner Wiener Wohnung als Büste über dem Flügel anbringen lassen. Von weit oben sah Beethoven auf Brahms herunter, stumm, einschüchternd, fordernd.

Etliche Jahre früher, als junges, komplett unbekanntes Talent, war Brahms bei Robert Schumann in Düsseldorf aufgekreuzt. Noch war nichts von ihm veröffentlicht, er war ein unbedrucktes Notenblatt. Dennoch war Schumann derart beeindruckt, dass er 1853 in seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ eine Lobeshymne über den 20-Jährigen schrieb: „Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend [...] Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener.“ Seine wuchtigen Sonaten seien „verschleierte Sinfonien“. Dieses Lob, so gut gemeint und nicht ganz verkehrt es auch war, hing an dem Sohn eines Musikers aus einfachen Verhältnissen lähmend schwer wie ein Mühlstein. Denn er und nur er war es, der das von Schumann gegebene Versprechen für alle sichtbar einzulösen hatte. Die gedankliche Arbeit an seiner Ersten begann kurz nach Schumanns Artikel, sie zog sich letztlich über 14 Jahre …

Fanny Hensel

Hiermit erteile ich dir den Handwerkssegen, und mögst Du Vergnügen und Freude daran haben, dass Du den andern so viel Freude und Genuss bereitest, und mögest Du nur Autor-Plaisiers und gar keine Autor-Misere kennen lernen, und möge das Publikum Dich nur mit Rosen und niemals mit Sand bewerfen und möge die Druckerschwärze Dir niemals drückend und schwarz erscheinen.“ Als Felix Mendelssohn Bartholdy 1846 seiner vier Jahre älteren Schwester Fanny Hensel diese halbwegs launig klingenden Zeilen schrieb, war sie 40 – und hatte nur noch acht Monate zu leben. Sie hatte bereits Hunderte Kompositionen in etliche Schubladen gelegt, sie gestapelt, gehegt und gepflegt und sie, eine nach der anderen, dort beerdigt. Gemeinsam mit der Hoffnung, als Komponistin von der Gesellschaft akzeptiert zu werden, vor allem von ihrer eigenen Familie, die doch so kunstsinnig und kunstliebend war, gleichzeitig aber auch so einengend.

Fanny war von frühester Jugend an Felix’ Vertrauensperson und erste Gegenleserin seiner Stücke gewesen. Wenn der heiß geliebte Bruder Felix, der ihr den Spitznamen „Fenchel“ gegeben hatte, Lieder schrieb, schrieb auch sie welche. Beide vertonten Goethes Gedicht „Erster Verlust“, sie schon 1820, er 1841. Beide träumten von Erfolg, doch in Erfüllung gingen diese Träume nur für ihn. Felix, der „außerordentliche Wunderjüngling“, wurde der bejubelte Tonsetzer. Der Held, der Johann Sebastian Bachs Musik wiederbelebt hatte, europaweit populär. Ein gefeierter Dirigent. Sie, „das Frauenzimmer im Hinterhaus“, war vor allem Gattin ihres Mannes, des Malers Wilhelm Hensel, und eine von ihresgleichen gefeierte Organisatorin der „Sonntagsmusiken“ für handverlesenes Publikum, die ab 1823 im prächtigen Berliner Gartensaal ihres Familienanwesens stattfanden.

Ab 1831 – Felix hatte reichlich anderes zu tun – war Fanny deren Alleinorganisatorin und für Proben und Dirigate zuständig, um bis zu 300 Gäste mit Konzerten zu erfreuen. Ihre eigenen Kompositionen programmierte sie dafür nur selten. Das war das Jahr, in dem sie drei große Kantaten zu Papier brachte. Drei Jahre später beendete sie ihr Es-Dur-Streichquartett, dem man ihre Beethoven-Bewunderung anhören kann.

Felix war der Glückliche, Fanny die tragische Zweite

1838 trat sie als Pianistin in Berlin erstmals groß öffentlich auf – sie spielte ein Klavierkonzert von Felix. Eine Profilierung als Komponistin war im von Männern aufgestellten Wertekanon ihres Umfelds für eine Frau von Welt nicht vorgesehen, nicht statthaft, nicht standesgemäß. Nicht vorstellbar.

Fanny, das älteste von vier Kindern, und ihr Bruder waren auf Augenhöhe höchstbegabt. Ihre Lehrer für Klavier und Komposition waren die besten gewesen, die man sich damals wünschen konnte. Doch Felix hatte die rasante, steile Wunderkindkarriere gemacht, er und nur er war in diesem Teil der großbürgerlichen Geschwistergeschichte der lachende Sieger geworden und geblieben. Felix war der Glückliche. Fanny die tragische Zweite, gefangen in einem Käfig aus Konventionen. „Schöner, als gesagt werden kann“, staunte Felix über ihren Liederkreis, „ich spreche bei Gott als kalter Beurteiler. O Jesus! Bessres kenne ich nicht.“

Erkennen war das eine, akzeptieren und fördern allerdings etwas anders. Und es dürfte in ihrer Zeit nicht viele junge Frauen aus gutem Hause gegeben haben, die für die eigene Hochzeit ein Orgelstück schrieben, so wie Fanny es 1829 mit ihrem F-Dur-Präludium erledigte, weil der Bruder sein Lieferversprechen nicht gehalten hatte. Ihrem Sohn gab Fanny drei Vornamen: Sebastian (wegen Bach) Ludwig (wegen Beethoven) Felix.

Schon bei Fannys Geburt soll die erfreute Mutter an ihr die „Bach’schen Fugenfinger“ erkannt haben. Ein schönes Omen für ein manierliches Hobby einer höheren Tochter wäre das gewesen, eigentlich. Was sie lernte, lernte sie allerdings nur für den gehobenen Hausgebrauch. Felix wurde mit zwölf Jahren als frühgeniale Vorzeigebegabung dem alten Goethe in Weimar präsentiert. Fanny blieb brav, wo sie hingehörte, in Berlin. Als sie 14 war, verabreichte ihr Vater Abraham­ Mendelssohn, ein ebenso erfolgreicher wie konservativer Bankier, dem Mädchen eine Lektion fürs Leben: „Die Musik wird für Felix vielleicht zum Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll“, schrieb er ihr. Deutlicher ging es kaum. Doch wahrscheinlich musste er immer wieder nachmahnen und Gehorsam einfordern, wie in diesem Brief von 1828: „Du musst Dich mehr zusammennehmen, mehr sammeln, Du musst Dich ernster und emsiger zu Deinem eigentlichen Beruf, zum einzigen Beruf eines Mädchens, zur Hausfrau bilden.“

Im Laufe der Jahre kamen weit über 400 Kompositionen zusammen (die verschollenen nicht mitgerechnet), vor allem Lieder und Klavierwerke, wegen der handlichen, überschaubaren Größe. Doch ihr Schaffensdrang machte auch vor größeren Formaten nicht halt, vor Kammermusik und Kantaten, Chor- und Orchesterwerken. Einige der ersten Lieder Fannys hatte Felix unter seinem Namen herausgebracht. Eines davon, „Italien“, sang ihm Queen Victoria 1842 bei einer Audienz, nichts ahnend, begeistert vor. Felix war darüber not amused und gestand, wie er später schrieb, „es fiel mir schwer, aber Hochmut kommt vor dem Fall, dass Fanny dieses Lied geschrieben hat“. Erst 1834 wurde Fannys Name tatsächlich auf ein Blatt Notenpapier gedruckt: Ihr Lied „Ave Maria“ erschien in einer Musikzeitschrift namens „Harmonicon“. In London

Georg Philipp Telemann

Zu seinen Lebzeiten war er das, was man heute mindestens als „Star“ bezeichnet: Er hatte Bewunderer in ganz Europa, war gut vernetzt, kommerziell erfolgreich, stilistisch auf der Höhe seiner Zeit. Schwer angesagt. Und das jahrzehntelang. Doch schon bald nach seinem Tod meinte es das Schicksal nicht mehr allzu gut mit Georg Philipp Telemann. Aus einem der wichtigsten Komponisten im deutschen Spätbarock wurde durch chronische Herabsetzung ein entbehrlicher Zuvielschreiber. Telemanns Werkkatalog war riesig: rund 3600 Stücke, mehr, als Johann Sebastian Bach – den damals fast niemand kannte, weil er nur eine regionale Größe war – und Händel zusammen zu Papier gebracht hatten. Etwa 50 Opern, Oratorien, 46 Passionen, Messen und Psalmen, 1400 Kirchenkantaten, 70 weltliche Kantaten, Lieder, Oden und Kanons, um die 1000 Orchestersuiten und mehr als 100 Solokonzerte für verschiedene Instrumente, dazu Kammer-, Klavier- und Orgelmusik. Ein Großteil ist verschollen. Doch auch der sichtbare Notenberg war eine Steilvorlage, um den autodidaktisch groß gewordenen Workaholic, Verleger, Notenstecher und Selbstvermarkter Telemann unter abwertenden Mittelmaßverdacht zu stellen.

Fair war das nicht. Nur zu gern wurde dabei vergessen, dass diese Tonkunst auch Handwerk war. Es gab ständig Abgabetermine für Auftragsarbeiten, ausgiebiges Grübeln konnte man sich da nicht leisten. Die Show musste weitergehen. Diese Maschine belieferte Telemann so virtuos wie niemand sonst, zu Recht war er der berühmteste Komponist im deutschsprachigen Raum. Ein musikalisches Wunderkind, wen wundert es, soll er übrigens auch gewesen sein. Mehr als zwei Wochen Klavierunterricht erhielt der hochbegabte Knabe nicht, nachher war er sein eigener Lehrer.

Rund 3600 Stücke mehr als Bach und Händel zusammen

Was war das Besondere an seiner Musik? Telemann war ein einfallsreicher Melodiker, ein Genie im Umgang mit dem Vokabular seiner Zeit. Alles klang leicht, nicht streng konstruiert, elegant, nicht schematisch. Hinter jedem Taktstrich konnte sich eine kleine, feine Überraschung eröffnen. Der Fachmann staunte, und der Laie freute sich. Telemann ließ sich von frisch importierten, aufregend würzenden Ideen aus Frankreich und Italien inspirieren, ohne dadurch seine eigene Handschrift zu verleugnen. Pracht- und Pompstücke lagen ihm ebenso wie anspruchsvolle Kammermusik. Seine Hamburger Opern hatten Witz und Situationskomik, weil sie für ein Publikum geschrieben wurden, das unterhalten werden wollte, seine geistliche Musik ist ausdrucksstark und gottesfürchtig. Zu seinen größten Publikumserfolgen zählt die Donnerode von 1756, eine spektakuläre Erinnerung an ein Erdbeben, das 1755 Lissabon fast vollständig zerstört hatte.

Mit seiner Karriere ging es dem gebürtigen Magdeburger Telemann ähnlich wie Jahrhunderte später den Beatles: woanders zur Welt gekommen, aber erwachsen geworden in Hamburg. Nach einigen ersten Jobstationen kam Telemann 1721 aus Frankfurt am Main an die Elbe, er hatte dort den Prestigeposten des städtischen Musikdirektors ergattert, zuständig für nicht weniger als fünf Hauptkirchen. Viel Ehre, aber: noch mehr Arbeit. Für jeden Sonntag, den der liebe Gott werden ließ, war eine Kantate fällig, für feierliche Anlässe brauchte es ständig passende feierliche Musik. Er lieferte Musiken für die großen Petri- und Matthiae-Mahlzeiten, für gewonnene Schlachten, „Hamburger Ebb’ und Fluth“ zur Hundertjahrfeier der Admiralität, Kapitänsmusiken für die Festmahle der Bürgerwachenoffiziere.

Da Telemann zwischenzeitlich auch einer der vielen Chefs war, die das Opernhaus am Gänsemarkt verschliss, kamen rund zwei Dutzend Opern dazu, die sich auch nicht nebenbei oder von selbst schrieben. Außerdem organisierte und vermarktete Telemann öffentliche Konzerte, damals noch keine Selbstverständlichkeit. Um seine Konzerteinnahmen zu erhöhen, hatte Telemann eine pfiffige Idee: Dabei sein durfte nur, wer vorher ein von ihm herausgegebenes Textbuch gekauft hatte. Etliche Instrumente spielte er auch. Diesen Dauerstress ließ sich Telemann, der seinen Marktwert beim Gehaltspoker clever ausgereizt hatte, angemessen bezahlen. Sein städtischer Lohn entsprach in etwa dem eines Bürgermeisters. Dumm nur, dass seine zweite Frau Maria Catharina beim Schuldenmachen und als Ehebrecherin angeblich genauso unermüdlich war wie ihr Mann beim Komponieren. 1736 endete dieses unschöne Kapitel mit einer Scheidung. Bei den Hanseaten war Telemann derart beliebt, dass man in der Stadt für ihn sammelte, um ihm einen Teil der Schuldenlast abzunehmen.

Unter Zeitdruck konnte Telemann praktisch aus allem und für jeden Musik machen: Er vertonte die Schwäne auf der Alster ebenso wie das Quaken von Fröschen. Noch während seiner Frankfurter Zeit schrieb er eine Suite für zwei Oboen, Streicher und Continuo, die in ihrem letzten Satz das aktuelle ̈Börsengeschehen vertonte: „L’Espérance de Mississippi“ bezog sich auf das Platzen einer Spekulationsblase, die sich um eine windige französische Handelsgesellschaft gebildet hatte. Eine Tafelmusik gefiel Händel, der in London Karriere gemacht hatte, derart gut, dass er einige Themen daraus für eigene Stücke adoptierte – damals kein Kavaliersdelikt oder eine Kapitulation vor der Schreibhemmung, sondern ein aufrichtiges Kompliment unter Kollegen. Auch Johann Sebastian Bach war rechtschaffen beeindruckt von Telemanns Schaffen in der großen Stadt und schrieb fleißig mit. Einige Bach-Forscher, die ihn unbedingt in ein besseres Licht stellen wollten als den Ruhmkonkurrenten Telemann, lobten die Kantate „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ für ihren Einfallsreichtum, der so typisch Bach sei. Bis sich herausstellte, dass sie von Telemann stammt .

Gustav Mahler

Alles beginnt, nur mit einem a, einem Ton, der sich durchs Orchester zieht, aus dem dunklen Keller der Kontrabässe bis in die höchsten Lagen der Geigen. Dann melden sich erste Holzbläser mit einem verzerrten Kuckucks­ruf, die Oboen werfen eine Idee dazwischen, bevor Trompeten „in sehr weiter Entfernung“ mit einer Fanfare Bewegung am Horizont ankündigen. Ist das eine vage Ahnung, ein Traum, eine Rückblende? Nein, es ist der rätselhafte erste Blick in eine neue Welt, der Beginn von Gustav Mahlers Erster Sinfonie, über die Mahler als Klangvorstellung „Wie ein Naturlaut“ schrieb.

Wenn schon, denn schon. Seiner Ersten den Beinamen „Titan“ zu geben, das wirkt nicht, als ob da jemand an seiner Bestimmung oder gar seiner Großartigkeit zweifeln würde. Mahler war noch keine 30, auf seinen ersten Karrierestationen als Kapellmeister in der Provinz hatte er sich hochgearbeitet, von Laibach über Olmütz und Kassel bis nach Leipzig und Budapest. Nun also: komponieren. Zunächst konnte er sich nicht entscheiden, ob es auf eine Sinfonie hinauslaufen sollte oder auf eine dieser neumodischen Sinfonischen Dichtungen à la Strauss oder Berlioz, mit schriftlich dazugegebenem Programm als Konzeptkleber. In solche Formatprobleme manövrierte sich Mahler mehrfach. Manche Sinfonien sind enorm lang, aberwitzig groß besetzt sind sie fast immer, die Vokalsolisten und Chöre sind da noch nicht mitgerechnet. Auch bei den Zutaten nahm er sich Freiheiten heraus: Um alpines Idyll zu erzeugen, garnierte Mahler seine Naturschilderungen in der Sechsten mit Kuhglocken.

Sein Grübeln. Seine Hoffnungen. Seine Ängste

In der gar nicht so kleinen „Nachtmusik“ der Siebten plinkert eine Mandoline sanft in der Dämmerung. Der Einsatz von Instrumenten abseits der Konzertbühne – das Fernorchester in der Zweiten hat vier Hörner, vier Trompeten plus Schlagwerk – verstärkt den Eindruck, dass diese Spektakelsinfonien sich in jeder Hinsicht weiter hinauswagen als klassische Standardwerke. Und dann wäre da noch dieser monströse Holzhammer im Finale der Sechsten, der „Tragischen“, dessen donnernde Schläge Tote aufwecken könnten, die Spielanweisung lautet „Wie gepeitscht – Wie wütend dreinfahren – Wie ein Axthieb“. Immer zitierte Mahler sich selbst, vor allem seine Wunderhorn-Lieder, weil seine Musik ja schließlich seine Weltsichten wiedergab. Sein Grübeln. Seine Hoffnungen. Seine Ängste.

Mit dem Einhalten von Benimmregeln hatte Mahler es ohnehin nicht so. Seine Sinfonien sind keine Konsensveranstaltungen, sondern trotzige, traumatisch taumelnde Bruchstücke, in denen Kanten überstehen und wo die Stimmung von einem Takt zum nächsten umschlägt, von manisch zu depressiv. Sie führen über dünnes Eis oder doppelte Böden in mitunter grell erleuchtete Abgründe. Sie sind Übergangswerke aus dem Denken des 19. Jahrhunderts, in dem vieles klarer war, in eine Zukunft im noch jungen 20. Jahrhundert, das ganz andere existenzielle Fragen aufwarf. Das chronisch gereizte Nervenbündel Mahler war nicht der letzte Zu-spät-Romantiker, sondern eher ein früh aus dem Leben gerissener Moderner. Drei Jahre nach Mahlers Tod brach der Erste Weltkrieg aus.

Die zweitwichtigste Station des Dirigenten Mahler bei seinem Reifeprozess zum Komponisten war von 1891 bis 1897 Hamburg. Am Stadt-Theater, dem Vorläufer der jetzigen Staatsoper, kettete ihn der windige Hausherr Bernhard Pollini an einen Galeerenposten: In der Spielzeit 1895/96 musste der Kapellmeister an 147 der 212 Abende Oper dirigieren, dazu kamen neben Konzertverpflichtungen die Proben. Und der Perfektionist Mahler probte lieber dreimal zu viel als einmal zu wenig, deswegen war er eher gefürchtet als geliebt. Doch er hatte es geschafft, das Opernhaus nach oben zu treiben. Obwohl ihn Brahms 1895 in Wien für einen Dirigentenposten der Gesellschaft der Musikfreunde vorgeschlagen hatte, wurde aus einem Jobwechsel so schnell nichts. Denn Mahler war Jude und Wien in dieser Hinsicht voller Anfeindungen und Stolperdrähte. Als sich die Chance bot, die Leitung der Wiener Hofoper und damit den feinsten Renommierposten der Musikwelt zu übernehmen, zögerte Mahler nicht – und ließ sich, rechtzeitig vor dem Umzug, in Hamburg katholisch taufen. Dauerhaft genützt hat es nicht. Denn die entsprechenden Kreise hörten nicht auf, ihn mit Schmutz zu bewerfen.

In Wien setzte der Opernreformer Mahler energisch fort, was er in Hamburg begonnen hatte. Mit dem Bühnenbildner Alfred Roller modernisierte er das Genre. Ende 1907 dirigierte er seine letzte Oper in Wien, die nächste Station war New York, die Metropolitan Opera. Musikalisch lief dort alles bestens, doch gegen die plüschigen Inszenierungsvorlieben des Met-Publikums, das mit Mahlers subtilen Regievorstellungen nichts anfangen konnte, kam er nicht an.

Nach einer Oper, nach Konzerten für Soloinstrumente oder Kammermusik sucht man in Mahlers Werkkatalog vergeblich. Aus der Studienzeit ist ein Teil eines Klavierquartetts erhalten, das war es dann aber auch. Kein Interesse, wahrscheinlich, vor allem aber: keine Zeit. Komponieren im großen Stil, das Vertonen empfindsamer Poesie und philosophischer Betrachtungen über Sein und Nichtmehrsein, das war für Mahler die Ehrenrunde. Die eigentliche Berufung neben dem Beruf des Dirigenten und Operndirektors. Er hatte ein brutales Arbeitspensum und war dafür berüchtigt, alles und jeden vor seinem Taktstock über den Rand der Verzweiflung hinauszutreiben. Der größte Teil seiner Werke entstand in den Sommerpausen der Opernhäuser. Während andere Urlauber in Kärnten oder im Salzkammergut in den nächstgelegenen See sprangen, saß Mahler, an Sinfonien feilend, im karg eingerichteten Komponierhäusl am Schreibtisch, selig grübelnd in freiwilliger Einzelhaft ...

Leoš Janáček

Mit ihm konnte man es machen. Er war ja nur dieses Landei aus Hukvaldy, einem Dörfchen in den Wäldern der mährischen Provinz, den man als Großstädter von oben herab als „Bauernmusikanten“ beschimpfen konnte. An der Tragödie „Jenůfa“, seinem ersten großen Opernerfolg, hatte Leoš Janáček gut neun Jahre gearbeitet. Nach frustrierend verlaufenen Studienrunden in Leipzig und Wien war der Sohn eines Dorfschullehrers, das neunte von 14 Kindern, wieder zurück in die Provinz gegangen. Er hatte einen Lehrposten in Brünn angenommen und blieb, wo er sich auskannte, am Rand, als aufmerksamer Beobachter und einfühlsamer Erzähler. Die größten Meisterwerke presste er mit enormem Schaffensdrang aus seinem letzten Lebensjahrzehnt: die Ehebruchoper „Katja Kabanowa“ (1921), die bezaubernde Fabel „Das schlaue Füchslein“ (1924), „Die Sache Makropulos“ (1926) über eine jahrhundertealte Diva und das 1930 posthum uraufgeführte Straflagerdrama „Aus einem Totenhaus“, außerdem die „Sinfonietta“ (1926), die beiden Streichquartette (1923/1928) und die wuchtige „Glagolitische Messe“ (1926).

Um von Janáčeks eigenwilliger, gefühlsdurchglühter Musiksprache fasziniert zu sein, genügen in aller Regel schon wenige Takte, danach ist es um einen geschehen. Nichts aus dem frühen 20. Jahrhundert klingt vergleichbar. Janáčeks Musik steht stolz und einsam quer zu allem und jedem. Es gab keine Vorgänger, auf die er sich bezieht, keine Schüler, die sein Erbe pflegten.

Von den betörend aufgeschäumten Herzschmerzopern des fast gleichaltrigen Puccini waren Janáčeks Bühnentragödien weit entfernt, in seinen Opern wird mit härteren Bandagen gekämpft. Mit Wagners Gesamtkunstwerkpathos konnte man ihn jagen, nicht nur, weil er als Nationalist wenig für das Deutsche an sich übrig hatte. Janáčeks fast immer fürchterlich endenden Geschichten sind realistische, psychologisch klug strukturierte Abbildungen echter Menschen, keine Charakterschablonen. Er zeigt einfache Menschen, hart, zerbrechlich, zerbrechend. Und dazu erklingt diese Musik, die mitleidet und kommentiert und die Druckwelle der jeweiligen Tragödie noch verstärkt. Feste Größen in den meisten Opern Janáčeks sind leidende Frauen, Frauen, die durch die gesellschaftlichen Zwänge und Moralvorstellungen in Engen getrieben werden, aus denen es kein Entkommen mehr gibt. Bei „Jenůfa“ kam ein persönlicher Schicksalsschlag dazu: Janáčeks geliebte Tochter Olga, 21 Jahre jung, starb während der Arbeit an dieser Oper an Typhus: Ihr Leiden wurde zu Jenůfas. Die Oper ist Olga gewidmet.

Janáčeks kräftezehrend aufrichtige Musik ist voller abrupter, manchmal verschrobener Wendungen. Nie kann man sich in einer Stimmung allzu lang eindeutig fühlen. Sobald der Erzählfluss es verlangt, verändert Janáček drastisch die Tempi. Eine Idee, oft nur ein kurzes Motiv, explodiert in einem Moment und fällt im nächsten wieder klein statt laut in sich zusammen. Dann wieder bricht sich eine lange gewundene Melodielinie Bahn durch die exzentrische Klangfarbenmischung. Harmonische Berechenbarkeit? Kann man vergessen, gibt es nicht. Wer es angenehm heimelig möchte und Postkartenidyllen aus einem Bilderbuchböhmen vorzieht, kann gern weiter Smetana hören.

Seine Musik steht stolz und quer zu allem und jedem

Der Mähre und Panslawist Janáček orientierte sich bei der Ausprägung seiner stilistischen und literarischen Vorlieben eher nach Osten: Er bewunderte Tschaikowski, nahm Dostojewskis „Aufzeichnungen“ aus einem Totenhaus zur Vorlage für sein Opernlibretto und ließ sich von Tolstois Novelle „Die Kreutzersonate“ zum Ersten Streichquartett inspi­rieren. Die Orchesterrhapsodie „Taras Bulba“, basierend auf einer Gogol-Erzählung über einen heldenhaften Kosaken, widmete Janáček der tschechoslowakischen Armee, die „Sinfonietta“ war eine Auftragsarbeit für den nationalistischen Sportverein Sokol („Der Falke“).

Immer wieder klingen bei Janáček Einflüsse aus der Volksmusik seiner Heimat durch, doch weitaus weniger adrett und ordentlich gekämmt als bei seinem Freund Antonín Leopold Dvořák. Von dessen gut ausgeleuchtetem Weg zum Erfolg durch Eingängigkeit bog Janáček früh ab, weil er nicht anders konnte, als es sich schwer zu machen. Lange vor Bartók machte sich auch Janáček zum Melodiensammeln auf den Weg über die Dörfer.

Was er dort fand, was ihm vorgesungen und berichtet wurde, konservierte er in seiner eigenen Musik. Er notierte den Gesang von Schwalben oder das Bellen seines Hundes und während eines London-Aufenthalts die vielen unterschiedlichen Intonationsmöglichkeiten des Wortes „Yes“. Unter den fast 4000 Eintragungen fand sich sogar das Knarren von Holzdielen.

Seine Lebensaufgabe und größte Leistung als Komponist sah Janáček darin, Musik so sprechen zu lassen, dass ihre Melodie sich nahtlos und unmittelbar dem Vokabular und seiner Bedeutung anpasste. Rhythmen, Tonhöhen, der Klang des Alltags und der Natur, alles sollte natürlich und selbstverständlich mit der Musik verwoben sein. Das Streben nach der möglichst idealen „Sprachmelodie“ war sein wichtigstes Ziel…

Ludwig van Beethoven

Jahrelang hatte Ludwig van Beethoven an seiner Neunten Sinfonie gearbeitet, während er unter anderem die Missa solemnis schrieb, die monströs schwere Hammerklaviersonate, die letzten drei der 32 Klaviersonaten und die großen Diabelli-Variationen. Jedes einzelne Projekt für sich epochale Großartigkeit. Aber dieses Werk sollte – wie so oft – alles und jeden in den Schatten stellen. Mit etwa 70 Minuten Länge episch im Ausmaß. Mit einem Chor und Gesangssolisten im Finale, damit die Musik buchstäblich zu den Menschen sprechen konnte. Mit Schillers „Ode an die Freude“ als frohe Botschaft einer Gesellschaftsutopie. Egal wie blau ihr Blut war, alle sollten Brüder werden, überall. So, wie es der viel jüngere Beethoven schon 1795 in einem Brief an einen Freund erhofft hatte: „Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird [...] da werden wohl noch Jahrhunderte vorübergehen.“ Die Premiere der Neunten fand am 7. Mai 1824 in Wien statt, zehn Jahre nach der Uraufführung der Achten, mit Beethoven hinter dem tatsächlichen Dirigenten stehend, wild zu seiner Musik gestikulierend. Als der Beifall kam, musste eine der Sängerinnen ihn zum Publikum umdrehen. Denn Beethoven war so taub wie eine Klavierbank.

„Einen Beethoven gibt es nur einmal!“

1802, in der Mitte seines Lebens und nach seinem vielversprechenden Karrierebeginn als virtuoser Pianist und Komponist in Wien, hatte Beethoven während eines Kuraufenthalts einen Text geschrieben, der als „Heiligenstädter Testament“ Teil seiner Leidensgeschichte wurde, einen erschütternden Brief an seinen Bruder, den er aber nicht abschickte, sondern bis an sein Lebensende aufbewahrte. „O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet [...] es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück [...] doch war’s mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub.“

In den folgenden Jahren verschlimmerte sich diese Schwerhörigkeit. Er ließ sich mit sonderbaren Medikamenten behandeln und suppenkellenartige Hörrohre anfertigen, alles vergeblich natürlich. Angeblich soll Beethoven mit einem Stock zwischen den Zähnen versucht haben, die Schwingungen seines Klaviers intensiver zu erspüren. „Nicht sehen können trennt von den Dingen, nicht hören können von den Menschen“, hatte der Philosoph Immanuel Kant erkannt. Um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, kommunizierte Beethoven schriftlich, mit seinen Konversationsheften, ein mühsames Unterfangen. Alles andere sagte Beethovens Musik seiner Welt, tröstlich singend, grimmig humorvoll, ihr Recht auf Individualität einfordernd. „Von Herzen – möge es – Wieder zu Herzen gehen“, war das Motto, das Beethoven nur über die Missa solemnis setzte, obwohl es zu fast allen seiner Kompositionen passt.

Beethoven war und ist der Größte, der Schwierigste, ein Visionär, Revolutionär, trotziger Einzelkämpfer, stolzer Selbstvermarkter – und seine Musik das Schönste. Ein Mythos ist er schnell geworden, trotz seiner kleinen Macken und Makel, er wurde durch ständig wiederholte Klischees zum Titan und Moralriesen überhöht, der dem Schicksal in den Rachen greifen wollte, es konnte und immer wieder überlebte.

Beethovens Vater, Sänger mit einem Alkoholproblem, wollte der Wunderkindverdienstmöglichkeiten wegen, dass aus dem kleinen Knaben prestissimo ein zweiter Mozart wird. Später sollte er „Mozarts Geist aus Haydns Händen empfangen“, was aber während der Unterrichtszeit in Wien bei Haydn nicht gelang, weil Lehrer und Schüler über Stilfragen immer wieder aneinandergerieten. Stattdessen wurde er der erste, einzige LUDWIG VAN BEETHOVEN. Ständig verliebt, sehr oft in adlige Damen, doch wegen der Standesunterschiede blieb es letztlich bei mehr oder weniger ernsten Affären. Wer war die „Unsterbliche Geliebte“, an die er 1812 in einem weiteren berühmten Bekennerbrief schrieb: „Welches Leben!!!! so!!!! ohne dich [...] ewig dein ewig mein ewig unß“? Wir wissen es nicht eindeutig, es gibt mehrere Kandidatinnen. Beethoven war ein nach Freiheit hungernder Künstler von Gottes und eigenen Gnaden, der die Berufsbezeichnung Komponist ablehnte. „Tondichter“, das war er, so wollte er gesehen und respektiert werden. Autoritäten und Aristokraten mochte er immer nur so ernst nehmen, wie es sein Kontostand verlangte. „Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt“, schrieb er 1806 nach einer Charakterkarambolage an seinen wichtigsten Geldgeber, Fürst Karl Lichnowsky. „Fürsten wird es noch Tausende geben, aber einen Beethoven gibt es nur einmal!“

Was sollte man unbedingt von Beethoven kennen und hören und immer wieder hören? Eigentlich so ziemlich alles. Schon in den frühen und auch in den schwächeren Stücken ahnt man die Größe: Die praktisch unbekannten Kurfürstensonaten WoO 47, die der Elf- bzw. Zwölfjährige in Bonn schrieb, sind mehr als adrette Gesellenstücke. Beethoven habe fast alles gekonnt, nur für die Stimme konnte er nichts Passendes komponieren? Ein Vorurteil und falsch. Sein Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ ist vom Feinsten, ebenso die Konzertarie „Ah! Perfido“ oder die „Adelaide“. Die Coriolan-Ouvertüre, als Vorspiel für ein geflopptes Theaterdrama angefertigt, ist ähnlich energisch aufbrausend wie die zeitgleich entstandene Fünfte Sinfonie, wird aber viel seltener gespielt ..

Joachim Mischke: „Der Klassik-Kanon“. Mit Illustrationen von Lucia Götz. Hoffmann und Campe, 280 S., 25 Euro, über shop.abendblatt.de und in der Geschäftsstelle Großer Burstah 18-32