Hamburg. Endlich wieder diese dramatische Stille. die es so nur nach einem Konzert in einem Konzertsaal mit Menschen gibt, nach der Musik und vor dem Applaus. Endlich wieder das Gefühl, jetzt mit allen, die auch dabei sind, die Luft anhalten zu müssen, weil man nicht anders kann, als die Luft anzuhalten, bis der erste Jubel kommt. Es war nicht der erste Abend, an dem der Große Saal der Elbphilharmonie wieder bespielt, gefordert und auch verzaubert wurde. Doch es war wohl der beste, radikalste und wichtigste, seit es dort wieder möglich ist, Konzerte zu geben. Vor allem: solche Konzerte zu geben. Ein Signal nach draußen, ein trotzig stolzes, von Herzen kommendes „So! Geht doch!“
Eigentlich hätte es eine Schostakowitsch-Sinfonie und ein Bartók-Violinkonzert geben sollen, eine durchaus honorige Kombination, die kann man immer mal machen. Aber eigentlich sollte die Welt ja auch anders geblieben sein, als sie schon seit Monaten ist. Teodor Currentzis und Patricia Kopatchinskaja haben also ein komplett anderes Gegen-Programm entworfen, das kreuz und quer durch Stil-Epochen saust. Von Helmut Lachenmanns rätselhafter, schwer verständlicher, aber faszinierender Gegenwart zu Heinrich Ignaz Franz Bibers rustikalem Hauen und Stechen ins Salzburger Barock, dann wieder ins Jetzt, zu Giacinto Scelsis Venus-Vision aus den 1950ern, und als Zugabe zart Wunderbares aus der englischen Renaissance von John Dowland, ein Lied, das todtraurig im Nichts und im Dunkel endete. Krieg und Frieden, Einsamkeit und Leid, Wut und Liebe.
Freie Auswahl, für jeden war etwas Passendes dabei, um sich angesprochen zu fühlen und neugierig darauf zu werden, was wohl noch passiert.
Teodor Currentzis: Die Bühne als Abenteuer-Spielplatz
Eine anstrengende, anregende, anfeuernde Konstellation, nur eine viel zu kurze Stunde kurz, in der Gegensätze dann doch keine sind, weil die vermeintlich Alte Musik wild und einfallsprall mit einigen der Verfremdungs- und Verirrungseffekten aufwartet wie die „… zwei Gefühle...“ dieses sehr lebendigen Lachenmann, der kurz zuvor mitten im Klanggeschehen stand und als Sprecher Wort-Fragmente dazwischenraunte. Ein ohnehin schon kryptisches Text-Fragment von Leonardo da Vinci, transformiert in Ton-Sprache, als ein weiteres von vielen Instrumenten. In einem ruhigen Moment lässt sich die Zeile „Doch ich irre umher...“ erahnen.
Wie passend für das Hier und Jetzt. Umwuchert und umrankt wird das alles von sehr erlebbaren, sehr sonderbaren Dingen, die das avantgarde-trainierte SWR Symphonie Orchester mit seinen Instrumenten anzustellen hat. Pusten, Schaben, der Pianist muss mit einem Gummihammer den Flügelrahmen bearbeiten, an einer Stelle ist der Deckel des Instruments rhythmisch zu heben und zu senken. Das sieht kurioser aus, als es klingt, weil Lachenmann ein Virtuose des Möglichkeitsraums Orchester ist. Er mutet nur zu, weil er weiß, dass er immer über die Grenzen muss mit seiner Kunst.
Riesen-Schlägel in der Elbphilharmonie
Dazu, als ergänzender Kontrast, diese koboldhafte Geigerin, die, wie immer barfüßig, mittendrin in Bibers Schlachtenmusik „Battalia“ von 1673 nach hinten wetzt, um mit einem Riesen-Schlägel auf die Große Trommel einzuprügeln, als Strafe für alles seit Mitte März. Im Biber wird auch mal laut gebrabbelt, der saftige Streicherklang ist rau und unfein, mehr Punk als gediegen historisch informiert. Ein Dirigent, der sein Podest als Startblock versteht, um von dort aus den Streichern vorzutänzeln, was er von ihnen hören will. Die Bühne als Abenteuer-Spielplatz. Und nachdem es bei Biber auch um Kriegsgott Mars geht, thematisiert Scelsi in „Anahit“ Venus. Dafür schuf er verdunkelte, mystisch wabernde Schlieren, einen Strom aus Klangfarbe, der buchstäblich unfassbar schillert, bis Currentzis nach dem Verklingen Koatchinskajas Notenpult-Licht abschaltet.
Am Ende aber ist es das einfachste Setting, das am stärksten anrührt. Fast alles, was auf dem Tour-Programm stand, war gespielt, bis auf das gerade in Stuttgart uraufgeführte Violinkonzert „posssible places“ von Dmitri Kourliandski, dessen Umbau-Aufwand den hiesigen Zeitrahmen gesprengt hätte. Keine Sekunde lang Langeweile oder Konvention, und dann kommen Dirigent und Geigerin noch einmal auf die Bühne. Für etwas, das nicht Teil der klassischen Arbeitsplatzbeschreibung ist: Sie singen.
Mehr noch: Sie singen sich an, als wären wir im Musical. Sie im Schneidersitz mit Geige auf dem Boden, er hockt auf dem Podest, gründlicher kann man sich als Orchester-Herrscher nicht entthronen.
Sie singen leise, mühsam durch ihre Maske und seinen Schal hindurch, nicht professionell, nicht immer ganz in einer Tonart, aber aufrichtig. „Weep you no more, sad fountain“, eines der tränengetränkten Lieder, für die Dowland zu Lebzeiten so berühmt war. Halbdunkel, die Theorbe wirft federleichte Begleitakkorde ins Halbdunkel. Kopatchinskaja spielt das Thema und die Renaissance ist heute. Reine Magie, das alles.
Nächstes Konzert: 1.10., 18.30 / 21 Uhr, „Dies Irae“. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Inszeniertes Konzert u.a. Werke von Biber, Crumb, Lotti, Scelsi, Ustwolskaja etc. Restkarten. www.elbphilharmonie.de Aktuelle CDs: „What’s Next Vivaldi?“ P. Kopatchinskaja, G. Antonini, Il Giardino Armonico (Alpha, ca. 15 Euro). Im November soll Currentzis’ Einspielung von Beethovens 7. mit MusicAeterna (Sony Classical) erscheinen.
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