Hamburg. Dies ist eine Geschichte, die von vollen Bücherbeuteln handelt, von durchlesenen Nächten, von der Langeweile, die allein mit Büchern kuriert werden kann. Eine Geschichte, in der auch ein Berufsberater vorkommt, der auf bemerkenswert plumpe Weise einer etwas ratlosen Schülerin die Zukunft weist und dennoch punktgenau ins Schwarze trifft.
Die Geschichte also, wie man Chefin der Hamburger Bücherhallen wird: Sie beginnt in Warder, einem 800-Seelen-Dorf in Schleswig-Holstein. Alle drei Wochen fährt hier ein Bücherbus vor, am Gasthof „Zur Linde“, und ein Mädchen schleppt dann zuerst einen Packen Bücher hin und dann wieder einen zurück nach Hause – Nachschub. Sie ist eine manische Leserin. Dass sie das zum Beruf machen kann mal irgendwann, ist kein Gedanke, der ihr kommt. Wohl aber dem Berater, der sie zuerst fragt, ob sie gerne liest und dann, ob sie nicht einfach Bibliothekarin werden wolle.
Schlechte Berufsberatung
„Ich hatte eine wirklich schlechte Berufsberatung oder zumindest eine, in der jemand sich nicht so richtig Mühe gab“, sagt Frauke Untiedt, dann lacht sie. Aufgewachsen in den Siebzigern und Achtzigern mit drei TV-Programmen und unendlich vielen Büchern, entschied sie sich nach dem Abitur in ihrer Geburtsstadt Neumünster für den Aufbruch in die weite Welt, die in diesem Fall Köln war.
Und tatsächlich für ein Studium des Bibliotheks- und Dokumentationswesens. Spaß machte ihr das nicht wirklich. „Ich zog es durch, was man beginnt, macht man auch zu Ende“, sagt die heute 49-Jährige dazu, um diese Formel der Selbstdisziplin aber sogleich beim Abriss ihres Lebenslaufs zu widerlegen. Ihren ersten Job nach dem Studium im Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen hatte sie bald satt: Sie war zuständig für die Titelaufnahme aus dem Zettelkatalog, um jene Titel in eine Datenbank zwecks neuer Kategorisierung einzugeben. Uff. Das muss sich genauso trocken anfühlen, wie es klingt.
Ranghöchste Büchereimanagerin der Stadt
Aber der Berufsberater hat am Ende tatsächlich recht behalten, und deswegen ist Frauke Untiedt, die im Gespräch nichts Verstaubt-Vergeistigtes an sich hat, heute die Leiterin der Öffentlichen Hamburger Bücherhallen. Sie ist die ranghöchste Büchereimanagerin der Stadt, und wer sie von dieser Aufgabe sprechen hört, der kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Beruf der Bibliothekarin öde sein könnte. Man sollte, erklärt die Frau, die einst nach gut anderthalb Jahrzehnten der Liebe wegen in den Norden zurückkehrte und 2007 bei den Bücherhallen anfing, „ein Verständnis für logistische Abläufe und Organisationsstrukturen mitbringen“, wenn man in einer Bibliothek arbeite.
Und dann sagt sie noch etwas, das natürlich nach Imagebroschüre der Bücherhallen klingt, aber total wahr ist – wer einmal in einer Bücherhalle war, der weiß, wie hochgradig sozial diese Orte sind: „Wer bei uns arbeitet, der muss sich freuen, wenn ihn jemand anspricht; wer schüchtern ist und bei uns anfängt, der wird es nicht bleiben.“
Die Ausleihen stiegen um das Dreifache
Man muss dazu sagen, dass Frauke Untiedt selbst keineswegs schüchtern ist, wenn es um die Rolle der Bücherhallen in Hamburg geht („Wir sind keine Insel in der Stadt, sondern fest in ihr verankert“). Und doch will sie, und das sagt sie ausdrücklich so, „nicht protzen“, gerade jetzt, wo es in der Coronakrise vielen kulturellen Institutionen nicht gut geht. Sie darf das aber dennoch sagen, durchaus stolz und zufrieden: Seit knapp drei Wochen kann man für einen begrenzten Zeitraum kostenlos Kunde der Bücherhallen werden. Fast 10.000 Menschen machten vom Angebot Gebrauch, die Ausleihen stiegen um das Dreifache. Frauke Untiedt steht einer erfolgreichen Unternehmung vor, das zeigt sich gerade jetzt, in schweren Zeiten.
Sie beschreibt sich als zupackend, als handfest, sie könne, sagt Untiedt, auch immer noch einfach Bücher ins Regal stellen. Zuletzt, bevor sie ganz nach oben rückte, war sie Chefin der Zentralbibliothek am Hühnerposten und Leiterin der zentralen Bibliotheksdienste. Geplant habe sie ihren Aufstieg an die Spitze nicht; erst 2018, also ein Jahr vor der Pensionierung von Hella Schwemer-Martienßen, habe sie sich gefragt, ob sie es machen wolle. Von ihrer Vorgängerin – „wir sind sehr unterschiedlich, sie konnte viel besser Konzepte schreiben“ – spricht sie so, wie es sich gehört: positiv.
Wenn neue Bücher kommen, müssen alte gehen
Aber es ist nicht nur der Respekt vor Schwemer-Martienßens großangelegten Umbau- und Modernisierungsarbeiten am Büchereiverbund („Sie kannte alle Büchereien in allen Stadtteilen sehr gut.“), sondern der vor der Aufgabe insgesamt, der da zu vernehmen ist. Untiedt war mittlerweile selbst in jeder der 32 Bücherhallen mindestens einmal. Sie hat 420 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und sagt, dass sie nicht jedes Detail selbst festlegen müsse, „ich habe gute Leute, die wissen, was sie tun.“
Nach einem halben Jahr befindet sie sich noch in der Eingewöhnungsphase. Geändert mit hinzugewonnener Verantwortung hat sich, kein Wunder, die Arbeitsbelastung. Anderes ist gleich geblieben. Wenn sie abends, auch als Repräsentantin der Bücherhallen in Hamburg im Museum war, auf Kampnagel oder auf Veranstaltungen der Stadtteilkultur, fährt sie nicht mit dem Zug nach Lübeck, wo sie mit ihrem Mann lebt, sondern schläft in ihrer kleinen Wohnung in Hamm. Dort hat sie laut eigenem Bekunden vielleicht fünf Bücher. Ihre Bibliothek befindet sich in Lübeck, gepflegt wird sie wie die auf der Arbeit: Es ist ein steter Durchlauf, zum Sammeln fehlt der Platz. Wenn neue Bücher kommen, müssen alte gehen.
Informationen zum Coronavirus:
- Die Stadt Hamburg informiert die Bürger auch online über das Coronavirus. Zusätzlich gibt es eine Hotline: 040 42828-4000
- Das Robert-Koch-Institut beantwortet häufig gestellte Fragen zu SARS-CoV-2
- Auch das Bundesgesundheitsministerium hat eine eigene Informationsseite zum Virus eingerichtet
Frauke Untiedt, die frühe passionierte Leserin und neue Chefin der Bücherhallen, liest immer noch, natürlich, zuletzt „Unorthodox“ von Deborah Feldman. Sie läuft, anders als früher, nicht mehr Marathon, „aber einen halben schaffe ich noch“. Und sie ist Heimwerkerin, zu Weihnachten, sagt sie ganz ernsthaft, „schenke ich mir immer ein teures Werkzeug“. Wände verspachteln, tragende Säulen austauschen: kein Problem. Das Haus der Bücherhallen wird sie wie ihre Vorgängerin sicher auch hier und da umbauen; wenn es gut läuft, wird dieser Umbau aber gar nicht so sehr auffallen.
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