Ausstellung

Die unbekannte Pulitzer-Preisträgerin aus Hamburg

| Lesedauer: 7 Minuten
Thomas Andre
Lisel Mueller wurde 1924 als Elisabeth Annedore Neumann in Hamburg geboren.

Lisel Mueller wurde 1924 als Elisabeth Annedore Neumann in Hamburg geboren.

Foto: Leihgabe-Familie-Mueller

Lisel Mueller erhielt 1997 die renommierte Literaturauszeichnung. Eine Ausstellung widmet sich nun der hierzulande unbekannten Lyrikerin.

Hamburg. Den Namen Lisel Mueller schon mal gehört? Nein? Das ist erst einmal nicht verwunderlich. Wer kennt schon jeden Pulitzer-Preis-Gewinner. Aber Lisel Mueller, das sollte man fortan wissen, ist die einzige in Deutschland geborene Pulitzer-Preisträgerin. Die Lyrikerin kam 1924 als Elisabeth Annedore Neumann in Hamburg zur Welt. Das Auswandererhaus in Bremerhaven widmet ihr nun eine von Lina Falivena und Benno Schirrmeister kuratierte, kleine Ausstellung. Das Abendblatt sprach mit Museumschefin Simone Eick.

Wie kam es zu der Lisel-Mueller-Schau?

Simone Eick: Wie bei jeder unserer Sonderausstellungen stand auch hier anfangs die Begeisterung für ein neues, noch zu entdeckendes Thema. Als der Bremer Journalist Benno Schirrmeister auf uns zukam und von der unbekannten Dichterin Lisel Mueller erzählte, sprang jedenfalls ein Funke über. Wir haben gemeinsam mit Schirrmeister und Jenny Mueller, der Tochter Lisel Muellers, die Ausstellung konzipiert. Die Gestaltung stammt übrigens vom Hamburger Büro Studio Andreas Heller Architects Designers.

Apropos, die Frage sei gestattet: Wäre das Auswanderermuseum in der Hamburger Ballinstadt als Ausstellungsort auch denkbar gewesen?

Simone Eick: Wir haben uns hier seit unserer Eröffnung 2005 immer wieder mit dem Themenkomplex Literatur und Migration beschäftigt. Für uns lag es also nahe, dass wir die Geschichte von Lisel Mueller und ihrem Werk erzählen.

Warum kennt hierzulande niemand Lisel Mueller? Wie lässt sich das ändern?

Simone Eick: Diese Frage stellen wir uns auch. Ihre Lyrik ist zwar in erster Linie amerikanisch, aber sie bedient sich am europäischen Märchenkonvolut. Deutschland und Hamburg spielen eine besondere Rolle in ihren Gedichten und ihr Werk kann sehr zugänglich sein. Ausgeblieben sind bisher umfangreiche Übersetzungen, mit denen vielleicht auch englischscheuere Leser und Leserinnen stärker auf Mueller aufmerksam gemacht werden könnten. Und sie ist eine Frau – eine Stimme, die wohl schneller vergessen und vielleicht sogar überhört werden konnte als andere. Wir sind mit unserer Sonderausstellung den ersten Schritt für eine größere öffentliche Würdigung gegangen. Neben dem Rahmenprogramm zur Ausstellung werden wir die Biografie auch in unsere Museumspädagogik einflechten: Schüler können sich mit gleichaltrigen Migrationsbiografien besser identifizieren. Mueller war bei ihrer Überfahrt in die USA 15 Jahre alt.

Was zeichnet ihre Lyrik aus?

Simone Eick: In erster Linie: historische Ereignisse, die auf das private Leben einwirken. Mueller deckt thematisch aber ein sehr weites Feld ab, schlüpft dabei immer wieder in verschiedene Rollen des lyrischen Ichs und ist sehr rhythmisch. Und auch ihr Studium beim Erzählforscher Stith Thompson ist unübersehbar, sie begegnen bei der Lektüre immer wieder unterschiedlichen Märchen- und Mythenfiguren. Und nicht zuletzt: Mueller kann sehr lustig sein. Spannend ist aber auch der therapeutische Impuls, der Mueller überhaupt zum Schreiben bringt. Nach dem Tod der Mutter beginnt sie nämlich, sich autodidaktisch das Schreiben beizubringen. Und das in ihrer Zweitsprache Amerikanisch.

Was macht Lisel Muellers Geschichte zu einer typischen Geschichte über Migration?

Simone Eick: Die „typische“ Geschichte über Migration gibt es für uns nicht. In ihrem Werk werden aber viele Themen benannt, für die sich auch die Migrationswissenschaft interessiert. Dazu zählen kollektives Erinnern, Fremdheitserfahrungen, Sprache, Kolonialismus und Auseinandersetzungen mit dem Aufnahme- und Herkunftsland. Mueller hat also eine Sensibilität für das Thema entwickelt, sie ist eine sehr gute Beobachterin. Ihren Vater, dem die Remigration missglückte, beschreibt sie zum Beispiel als „restless transcontinental traveler“, als „rastlosen Wanderer zwischen den Kontinenten“.

Was weiß man über Lisel Muellers amerikanisches Leben?

Simone Eick: Mueller studiert Soziologie und Comparative Literature, heiratet ihre Campusliebe, arbeitet in unterschiedlichen Anstellungen, also zum Beispiel als Sprechstundenhilfe in einer HNO-Praxis oder in der öffentlichen Bibliothek, baut gemeinsam mit ihrem Ehemann Paul E. Mueller ein Haus, bekommt zwei Töchter, schreibt Lyrikrezensionen für die Chicago Daily News und zählt zu den Gründern des Chicago Poetry Centers. Auf den ersten Blick ein recht geregeltes und beschauliches Leben.

„Mein Land war getroffen von Geschichte, tödlicher als Erdbeben und Hurrikane“ heißt es in einem Gedicht Lisel Muellers. Inwiefern ist die Lyrikerin Deutsche geblieben in den acht Jahrzehnten ihrer amerikanischen Existenz?

Simone Eick: Mueller wurde, bis sie 15 Jahre alt ist, in Deutschland sozialisiert. Sie können diese Spuren in ihrer Lyrik nachvollziehen. Und sie definiert Hamburg an verschiedenen Stellen als „my city“ und Deutschland als das Land, das ihres hätte sein sollen. Aus Elisabeth Annelore Neumann wird aber Lisel Mueller, und die deutsche Sprache empfindet sie irgendwann als magisch und exotisch. Tatsächlich übersetzte Mueller aber auch Anna Mitgutsch und Marie Luise Kaschnitz ins Englische.

Wie war ihre sonstige Beziehung zu ihrem Geburtsland? War Lisel Mueller nach ihrer Emigration im Jahr 1939 oft in Hamburg?

Simone Eick: „I am the only one in my family who has postponed the return all these years, and even now the need for the journey feels more like an obligation than a wish“, sie sei die einzige in ihrer Familie, die die Rückkehr all die Jahre verschoben habe, und selbst jetzt fühle sich das Reisebedürfnis eher wie eine Pflicht an. Dieses Zitat stammt aus Muellers Essay „Return“, bei dem sie den einzigen Besuch nach Hamburg dokumentiert. 44 Jahre nach der Auswanderung und gemeinsam mit ihrem amerikanischen Ehemann. Mueller fühlt dabei vor allem Fremdheit. Gleichzeitig werden viele Erinnerungen aktiviert, die auch in ihrer Lyrik immer wieder präsent werden. Schulerfahrungen im Nationalsozialismus, Besuche bei den Großeltern und in der Natur, Angst um den Vater. Diese Erinnerungen sind oft sehr ambivalent – wie auch ihre Beziehung zu Deutschland.

Lisel Muellers Vater war der Reformpädagoge Fritz C. Neumann, der als politisch Verfolgter aus Nazi- Deutschland fliehen musste. Ist der in Hamburg noch jemandem ein Begriff?

Simone Eick: Das können wir leider nicht einschätzen. Wir würden uns jedenfalls sehr freuen, wenn viele Hamburger sich die Sonderausstellung anschauen und Lisel Mueller und auch ihren Vater Fritz C. Neumann (neu) für sich entdecken.