Hamburg. Nur einen Abend nach einer vielschichtig faszinierenden, anregend verstörenden Staatsopern-Inszenierung von Bergs „Lulu“ die putzige, durch und durch herzenshübsche Aschenbrödel-Veroperung „La Cenerentola“ von Rossini zu hören kommt einer Definition des Begriffs „Kulturschock“ schon sehr nahe. Zwischen beiden Titelheldinnen liegen mehrere Welten, und das nicht nur musikalisch; doch ebenso, wie die Kanadierin Barbara Hannigan als ideale Lulu gilt, ist die Römerin Cecilia Bartoli in dieser Aschenbrödel-Rolle hinreißend bis ins letzte Sechszehntelnötchen ihrer Koloraturgirlanden; seit mehreren Jahrzehnten bereits.
In der Sammlung der Format-Premieren fehlte der Elbphilharmonie bislang noch das Genre „konzertante Oper“. Diese „semiszenische“ Aufführung war für diesen Teil der Vielseitigkeitsprüfung geradezu ideal. Denn Bartoli hatte, wie es ihre Art ist, für die aufgebackene Wiederbelebung einer 22 Jahre alten Inszenierung aus Zürich ein passgenau enger gefasstes Orchesterchen im Tourneegepäck, um mit verfeinertem, historisch informiertem Klangkolorit aufzuwarten.
Kostüme wie aus Kindertheater-Fundus
Das im vergangenen Jahr von ihr gegründete und mit handverlesenem Spezialisten-Personal bestückte Ensemble Les Musiciens du Prince mit Heimatanschrift im Knallpressen-Fürstentum Monaco (eine nette Pointe, wenn man ausgerechnet ein Stück über rosarote Prinzesschenträume und bürgerliche Emporkömmlinge aufführt) spielte auf durchschlagschwächerem Instrumentarium. Die Fagotte zippelten apart, auch die Naturhörner und Naturtrompeten blieben – soweit sich das in Block A beurteilen ließ – klanglich auf Distanz zum moderneren Orchesterklang.
Angenehmer Nebeneffekt dieser Hörerziehungsmaßnahme: je weniger Tutti, desto kräftesparender für die Stimmen, die mit den von Rossini geforderten Gurgelgeläufigkeiten ja schon ausgelastet genug sind. Und so blieb auf der für dreistellige Besetzungen ausgelegten Bühne im Großen Saal auch noch genügend Auslauffläche, um mehr zu bieten als das handelsübliche Standbein-Spielbein-Herumgestehe mit obligatem Bühnentür-Abgang von „konzertanten“ Opernabenden, die stets wie Durchlaufproben in Abendgarderobe anmuten.
Begeisterter Applaus
Hier war es komplett anders. Kostüme wie aus dem Kindertheater-Fundus (der Philosoph Alidoro kam in göttlichem Weiß, mit Pan-Tau-Melone und Engelsflügelchen am Frack), insbesondere für Cenerentolas schrille Schnepfenschwestern Clorinda und Thisbe. Einige Requisiten und die unbremsbare Spielfreude des Ensembles bewiesen: Platz genug für solche Stücke ist, wenn man nur will und kann, auch auf der leersten Bühne.
Die komplett zweitgedankenfreie Personenregie für die Streithansel à la „Nein!“ – „Doch!“ – „Oh!“ hätte allerdings auch aus dem Nachlass von Louis de Funès stammen können. Untertitel fürs Italienische waren dafür nicht nötig, denn die „Es war einmal“-Geschichte schnurrte auch unsynchronisiert mit sonniger Kindergeburtstagsfröhlichkeit und bestens nachvollziehbar ins Happy End, nach dem begeisterter Applaus losbrach.
Abend wurde aber nicht langweilig
Der Freiraum hinter den Orchesterpodien wurde dabei zur zweiten Hälfte einer unsichtbaren Kulisse. In ihrer großen Auftrittszene schritt Bartolis Cenerentola huldvoll majestätisch über die Treppenstufen in Block A zurück auf die Bühne. In der Gewitter-Episode im zweiten Akt donnerblechte es nicht nur niedlich aus dem Schlagwerk über das Orchester hinweg, die Hightech-Lichtanlage des Saals flackerte und blitzte, was ihre Schaltkreise hergaben. Als Special-Effect-Zugabe, als Kundendienst auf den Raum zugeschnitten, gönnten sich Bartoli und ihr Tenor-Bilderbuchprinz Edgardo Rocha hin und wieder Spitzenton-Pirouetten zur 360-Grad-Beschallung des verzückten Publikums. Hier war man Arien-Arena, hier mochte man’s strahlend sein.
Unterhalb dieser Glanzlichter wurde zwei kurzweilige Akte lang Rossini vom Feinsten geliefert, mit einer Sängerbesetzung, die deutlich mehr war als lediglich vokale Randbebauung für den Superstar in ihrer Mitte. Die Diva war hier Prima inter Pares und genoss es, Teil eines Ensembles zu sein, das mit ihr mithalten kann. Nach kleinen Anlaufproblemen in der Stimme war die 50-Jährige, gelernt ist gelernt, schnell und versiert auf jener Betriebstemperatur, die ihren Koloraturmezzo so souverän und detailbewusst leuchten lässt. Und dieses Ensemble war so gut austariert, so sicher im Stoff und seiner Beherrschung der Stilmittel, dass der Abend zwar lang war, aber nicht langweilig wurde.
Kleine Rollen, große Wirkung
Das edelmetallisch strahlende Tenor-Trompetchen von Rocha in seiner Prinzenrolle war eine Pracht. Schwer zu entscheiden, ob Alessandro Corbelli als Dandini oder Carlos Chausson als Magnifico der amüsantere Buffo-Bariton in diesem Stückchen war; beide spielten sich die Pointen zu, als stünden sie seit Ewigkeiten nebeneinander im Rampenlicht. Ugo Guagliardos Alidoro sah in seinem Kostüm zwar reichlich albern aus und trug das mit der noch möglichen Würde, sang seine Basspartie aber deutlich ansprechender.
Sen Guo als Clorinda und Irène Friedli als Thisbe: kleine Rollen, große Wirkung. Für B-Besetzungen, die sie noch nicht aus Prestigeprojekten wie in Salzburg kennt, ist Bartoli längst nicht mehr zu haben. Die Ensemblenummern waren dann auch in jeder Nuance, in jeder Phrase perfekt durchgetaktet, da klapperte oder kleckerte rein gar nichts. Neben Profis wie diesen konnte sich auch Gianluca Capuano am Dirigentenpult entspannen und sich einen netten Opern-Abend mit dieser reizenden Musik machen.
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