Hamburg. Heute würde man den Reformator Martin Luther wohl als Singer-Songwriter bezeichnen. Kaum eine Christvesper, kaum ein Weihnachtsgottesdienst kommt ohne „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ aus, von dem zumindest die ersten drei Strophen gesungen werden. Dass es Luther war, der dieses Lied nicht nur gedichtet, sondern auch komponiert hat, dürfte weniger bekannt sein.
Überhaupt scheint der Wittenberger Reformator in der breiteren Öffentlichkeit als erfolgreicher „Liedermacher“ nicht sehr präsent zu sein. Dabei ist Luthers Beziehung zur Musik viel intensiver gewesen als etwa zur bildenden Kunst. Er war ohne Zweifel sehr musikalisch und hatte schon, als er von 1498 bis 1501 in Eisenach die Lateinschule besuchte, eine entsprechende Ausbildung erhalten.
Ausbildung auf akademischem Niveau
Als Singknabe musste er damals zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Und er sang auch sonst gern, nicht nur Kirchen- und Volkslieder, sondern auch mehrstimmige Motetten. Zweifellos besaß er Kenntnisse über polyphonen Tonsatz, zumal er als Student in Erfurt auch auf akademischem Niveau musikalisch ausgebildet wurde. Außerdem spielte er Querflöte und vor allem Laute, eines jener Instrumente, die im 16. Jahrhundert auch außerhalb der Kirchen oft erklangen.
Aber wurde damals überhaupt in den Kirchen gesungen? Jedenfalls nicht von der Gemeinschaft der Gläubigen, denn die Gemeinde war vom Gesang meistens ausgeschlossen. Die gregorianischen Hymnen trugen Mönche oder Geistliche vor, die Gemeinde hätte schon deshalb nicht einstimmen können, weil es sich um lateinische Texte handelte, die die einfachen Menschen nicht verstanden. Diese hatten in der Kirche zweierlei zu tun: den Mund halten und beten.
Gesungen wurde auch zu Hause
Bei Augustinus, dem berühmten spätantiken Philosophen und Kirchenlehrer, fand der Augustinermönch Luther den Ausspruch „Wer singt, betet doppelt“. Und da er als Akademiker die Bibel in der Originalversion lesen konnte, stieß er auf die enorme Bedeutung, die dem Singen dort beigemessen wird. Mit den Psalmen, dem Hohelied, den Klage-, Dank- und Jubelliedern besteht „die Schrift“, wie Luther die Bibel nannte, zu einem beträchtlichen Teil aus Liedern.
„Gottes Wort will gepredigt und gesungen werden“, forderte Luther, der aber genau wusste, dass das nur mit lateinischen Texten nicht funktionieren konnte. Also übersetzte er einerseits lateinische Hymnen in ein ebenso kraftvolles wie eingängiges Deutsch und schrieb auch völlig neue Lieder.
Weihnachtliche Familienidylle
„Nun freut euch, liebe Christen’gmein“, stammt von 1523, weltberühmt ist der sechs Jahre später entstandene Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, den Heinrich Heine als „Marseiller Hymne der Reformation“ und Friedrich Engels noch knackiger als die „Marseillaise der Bauernkriege“ bezeichneten. Mit etwa 45 Chorälen hat Martin Luther selbst den Grundstock für ein evangelisches Choral-Repertoire gelegt, das fortan in den Kirchen gesungen und von Komponisten wie Heinrich Schütz und später Johann Sebastian Bach in Motetten und Kantaten verarbeitet wurde.
Gesungen wurde nicht nur in der Kirche, sondern auch zu Hause, ganz besonders zu hohen Festen. Ein Blatt des Weimarer Kupferstechers Carl August Schwerdgeburth aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt eine weihnachtliche Familienidylle: Luther mit der Laute in der Hand, seine Frau Katharina, die Kinder und Philipp Melanchthon als Gast haben sich um den Christbaum versammelt, unter dem die Geschenke liegen.
Luther hat Laute gespielt
„Dr. Martin Luther im Kreise seiner Familie zu Wittenberg am Christabend 1536“ steht auf diesem Kupferstich, der bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein enorm beliebt war und Luther postum den Ruf eintrug, er habe auch noch den Christbaum erfunden. Davon kann natürlich keine Rede sein. Im ehemaligen „Schwarzen Kloster“, das Luther seit 1532 gehörte und das er mit seiner Familie bewohnte, stand kein Christbaum.
Dieser verbreitete sich erst im Lauf des 19. Jahrhunderts, also zur Entstehungszeit des populären Kupferstichs. Aber dass Luther Laute gespielt und auch zur Weihnachtszeit mit seiner Familie gesungen hat, kann als sicher gelten. Schon 1524 hatte er den Weihnachtschoral „Gelobet seist Du, Jesu Christ“ geschrieben, der es sogar in katholische Gesangbücher geschafft hat. Für das Adventslied „Nun kommt der Heiden Heiland“, das auch durch die gleichnamige Bach-Kantate bekannt ist, übersetzte Luther den altkirchlichen Hymnus „Veni redemptor gentium“ des Ambrosius von Mailand aus dem vierten Jahrhundert ins Deutsche.
Insgesamt 15 Strophen hat Luther verfasst
Sein beliebtestes Weihnachtslied hatte aber ursprünglich mit Weihnachten gar nichts zu tun. Nicht belegt, aber gern erzählt wird die Geschichte, dass Luther „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ dichtete, weil er 1535 ein Lied für die Weihnachtsbescherung der eigenen Kinder brauchte.
Als Melodie diente ihm das durchaus ein wenig anrüchige Spielmannslied „Ich kumm auß frembden landen her und bring euch vil der newen mär“, bei dem er sich sogar textlich bediente. Nur kommt eben kein Spielmann mehr aus einem fremden Land, sondern ein Engel vom Himmel. Und es geht auch nicht um profane Neuigkeiten, sondern um die Weihnachtsbotschaft.
Weihnachtslied trat seinen Siegeszug an
Insgesamt 15 Strophen hat Luther verfasst und vier Jahre später auch noch eine eigene Melodie. 1539 trat dieses Weihnachtslied als luthersches Gesamtkunstwerk seinen Siegeszug an. 1748, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Johann Sebastian Bach seine „Canonischen Veränderungen“ über das Weihnachtslied. Schon 1734 hatte die zeitlose, schöne Melodie gleich dreimal Eingang in Bachs Weihnachtsoratorium, allerdings mit anderen Strophen: „Ach, mein herzliebes Jesulein“, „Schaut hin, dort liegt im finstern Stall“, „Wir singen dir in deinem Heer“.
Den Choral, der die erste Kantate des Weihnachtsoratoriums beschließt, hat also Luther komponiert. Der Text entspricht der 13. Strophe des lutherschen Weihnachtsliedes: „Ach mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein, zu ruhen in meines Herzens Schrein, dass ich nimmer vergesse dein!“ Wahrscheinlich hätte das Luther gefallen.
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