Hamburg. Abschiedsmelancholie ist Ivan Urban so gar nicht anzumerken. Entspannt, zufrieden und mit Freizeitbart kommt der Erste Solist des Hamburg Balletts zum Gespräch, ihm ist offensichtlich nicht flau zumute, obwohl seine mehr als 20-jährige Karriere am Hamburg Ballett mit dieser Spielzeit zu Ende geht und er künftig nur noch als „Sonderdarsteller“ auf der Bühne zu sehen sein wird.
Sonderdarsteller. Für Ivan Urban (41) ist dieses Wort nicht negativ besetzt. Er weiß, dass sich dahinter interessante Figuren und Charaktere verbergen können, und er hat seinen Frieden damit gemacht, loszulassen, was er nun einmal loslassen muss. Verletzungs- und altersbedingt. „Ich erreiche jetzt die dritte Phase meines Lebens“, erklärt der gebürtige Weißrusse auf Englisch. Deutsch spricht er noch immer nicht so gut, wie viele seiner Mittänzer aus anderen Ländern, will es jetzt aber „endlich lernen“.
Die erste Lebensphase haben seine Kindheit und die sieben Jahre dauernde Ausbildung an der Minsker Ballett-Akademie ausgemacht, die zweite seine Laufbahn als aktiver Tänzer (seit 1998 als Erster Solist), und nun, zunächst als Assistent der Ballettmeister, folgt die dritte Phase. Als Lehrer für die kommende Tänzergeneration.
„Ich hatte das Glück, schon viele tolle Rollen zu tanzen und inspirierende Menschen zu treffen. Jetzt muss ich meinen neuen Platz finden.“ In die Arbeit zu John Neumeiers „Turangalîla“ war er bereits eingebunden, hat zudem andere Tänzer gecoacht, ihnen geholfen, sich einer Rolle anzunähern. In eine Rolle zu schlüpfen sei ein langer, schrittweiser Prozess, sagt Urban. „So etwas lernt man nicht nur im Proberaum.“ Er selbst fand es immer schöner, „ein Buch mit leeren Seiten aufzuschlagen“, sprich: mit John Neumeier eine völlig neue Choreografie zu erarbeiten. Das sei weit spannender, als eine Rolle zu lernen, die ein anderer bereits getanzt hat. Während der Probephasen entstehe jedes Mal etwas Ungeplantes. „Du gehörst dir nicht. Du bist Teil des Ganzen“, erklärt Ivan Urban das.
Teil des Ganzen kann Ivan Urban nun bleiben. Künftig gibt er sein Wissen weiter, er korrigiert („möglichst taktvoll“) Fehler bei seinen Kollegen, gibt Tipps, feilt mit ihnen an Ausdruck, Übergängen und Abläufen, an Haltung, Krümmung, Drehung oder Dehnung. Bei den männlichen Tänzern achtet er auf die Muskelarbeit, darauf, ob der Rücken sich weich biegt, ob Füße und Hände richtig arbeiten.
Am 9. Juli ist Ivan Urban noch einmal als Jago in Shakespeares „Othello“ sehen, eine seiner zentralen Charakterrollen und auch aus anderem Grund für ihn besonders wichtig: Nach einem doppelten Kreuzbandriss, den er sich 2013 während einer Vorstellung zugezogen hatte, musste Urban nämlich mehr als zwei Jahre pausieren. Er unterzog sich einer harten Rehabilitation, aber auch danach spürte er, dass die Muskelkraft und der Halt im Knie nicht wie vorher waren. Egal wie viel er trainierte, er fühlte sich nicht bereit, wieder zu tanzen.
Im Februar dieses Jahres änderte sich das am Morgen vor der „Othello“-Premiere in Chicago. Ein anderer Tänzer hatte die Rolle des Jago einstudiert, aber John Neumeier war nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Am Tag der Vorstellung rief der Ballettdirektor deshalb Urban an und fragte ihn, ob er den Jago kurzfristig übernehmen könne.
„Die Rolle war mir zwar noch nahe, aber ich wusste, dass ich dann auf der Bühne diesen Charakter ohne jegliche physische oder mentale Zurückhaltung darstellen müsste“, erinnert sich Urban. „Mir war klar, dass diese Figur auf der Bühne sozusagen bis zum Ende ausbrennen muss. Es war eine sehr schwere Entscheidung, aber ich sagte Ja, obwohl ich mir in dem Moment nicht sicher und sehr nervös war.“
Doch das Experiment gelang, und Ivan Urban eroberte sich den Jago zurück.
Jago, jene Figur, die Othello und Desdemona ins Verderben reißt, tanzt er als manipulativ-durchtriebenen Charakter, spielt den Sadismus gegenüber Emilia und den dumpfen Frust des Außenseiters, an dem die Begünstigten achtlos vorüberziehen, brillant aus.
Zu Urbans großen Rollen zählten außerdem der Armand in der „Kameliendame“, den er manchmal sogar mit seiner Frau, der ehemaligen Ersten Solistin Anna Polikarpova, tanzte, außerdem Drosselmeier („Nussknacker“), Kostja („Die Möwe“), Peer Gynt, der Prinz in „Cinderella“. Auch sehr komplexe Rollen hat er getanzt, etwa den eleganten Verführer Diaghilev in „Nijinsky“ oder Hamlet, für den er sich den Kinofilm mit Mel Gibson ansah, dessen Interpretation der Rolle ihm sehr geholfen habe.
Den Jago wird er vielleicht sogar noch einmal tanzen. „Wenn ich dazu körperlich in der Lage bin. Dann hätte ich große Lust dazu.“ Ansonsten sei er glücklich, ab jetzt andere Tänzer zu unterstützen: „Nicht jeder bekommt diese Chance“, weiß er.
Die Bühne, ja, die vermisst er bereits jetzt. „Allein dieses Adrenalin, das einem immer vor der Vorstellung durch die Adern schießt! Wenn man auf der Bühne steht, bleibt aller Ärger, aller Schmerz draußen. Auf der Bühne fühle ich nichts Negatives mehr, denn die Bühne ist ein magischer Ort.“
Als Weißrusse fühlt er sich schon lange nicht mehr: „Ich gehöre mir selbst. Und meine Heimat ist diese Stadt. Ich habe kein Heimweh, aber ich bin dankbar, dass ich in Minsk eine fundierte Ausbildung als Basis für meine spätere Karriere bekommen habe.“
Als seine Mutter ihn damals zur Aufnahmeprüfung brachte, habe man ihn für ein Mädchen gehalten und nach dem Vortanzen zunächst abgewiesen: „Ihre Tochter hat zu große Füße“, habe man seiner Mutter gesagt. Später sei er, der blondlockige Jüngling, doch noch aufgenommen worden: „Ich hatte von Natur aus einen weichen Rücken und gut geeignete Beine, aber ich musste körperlich stärker werden. Hier in Hamburg habe ich das gelernt, wie so vieles andere.“ Wenn er heute am Morgen wach werde, beginne er noch im Bett mit dem Training: „Ich drehe meine Hüften, bringe die Füße in die fünfte Position, und dann starte ich erst in den Tag.“
Die Lehrtätigkeit könne das Adrenalin auf der Bühne womöglich ersetzen, glaubt Ivan Urban. Bei der Premiere von „Turangalîla“ am vergangenen Sonntag sei er, der er im Hintergrund mitgearbeitet hatte, genauso nervös gewesen wie die Tänzer auf der Bühne.
Schon bald wird er womöglich emotional noch stärker involviert sein: Sein Sohn Andrej soll ab dem nächsten Jahr die Ballettschule besuchen.
„Othello“ Sa 9.7., 19.30 Uhr. Karten (6 bis 107 Euro) gibt es noch, T. 35 68 68
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