Hamburg. Es ist etwas Geheimnisvolles um das, was man Bühnenpräsenz nennt. Manche Menschen sind einfach nur da und wirken, ohne irgendetwas dazuzutun. Als vor einigen Jahren die Geigerin Anne-Sophie Mutter mit Stipendiaten ihrer Stiftung, zusammengefasst unter dem sprechenden Namen „Mutter’s Virtuosi“, in der Laeiszhalle mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ brillierte, da stand im Tutti hinten auf der Bühne ein Mädchen und fesselte den Zuhörer durch die konzentriert-stille Art, mit der es seine paar Begleittöne adelte. Hier der perfekt kontrollierte, perfekt gestylte Weltstar, dort das Naturkind, ein Wesen wie aus einem skandinavischen Märchen entsprungen. Mit keiner Bewegung und erst recht keinem Ton drängte sich die junge Frau nach vorn. Vielleicht war es gerade das, was sie von innen leuchten ließ.
Ihr ungebändigtes Haar und das perfekte Oval ihres Gesichts verleihen Vilde Frang eine gewisse Feenhaftigkeit, das ist bis heute so. Doch war sie schon damals kein Kind mehr, sondern selbst eine gefragte Solistin. Mittlerweile, im August wird sie 30, konzertiert sie auf der ganzen Welt.
Als Hamburger Einstand mit Orchester hat Frang im vergangenen Dezember zwei Bach-Violinkonzerte beim Philharmonischen Staatsorchester gespielt. Am kommenden Donnerstag debütiert sie beim NDR Elbphilharmonie Orchester. Die Leitung hat Sakari Oramo, auf dem Programm stehen die deutsche Erstaufführung des Stücks „Beast Sampler“ von Anders Hillborg, die erste Sinfonie von Edward Elgar und, eben mit Frang, das Violinkonzert von Britten. Tags darauf eröffnen die Künstler mit demselben Programm in Wismar die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Anne-Sophie Mutter hat Frang schon als Elfjährige kennengelernt. Mit zwölf gab sie unter Mariss Jansons in ihrer Heimatstadt Oslo ihr erstes Solokonzert. „Mutter ist ein Phänomen. Ihr vorzuspielen war furchtbar aufregend für mich, besonders vor großen Solokonzerten“, erinnert sich Frang im Gespräch in einem Hamburger Hotel an ihre paar Privatstunden bei der Übergeigerin. „Später auf die Bühne zu gehen, war im Vergleich dazu gar nichts! Sie strahlt einen Ernst und eine Disziplin aus, die einen ziemlich einschüchtern können. Aber genau wegen dieser Qualitäten war sie mein Vorbild. Und sie setzt sich sehr persönlich ein.“
Auch aus der Nähe hat Frang etwas von einem Waldwesen; fast scheint es, als wären ihr Haar und ihr moosgrüner Pullover auf demselben Baum gewachsen. Sie spricht leise und melodisch, hin und wieder rollt sie das „r“, was einen drolligen Kontrast zu ihrem großen englischen Wortschatz ergibt.
Ihr Deutsch reiche eher zum Überleben aus, behauptet sie und lacht – den Satz spricht sie allerdings flüssig auf Deutsch aus. Mit Deutschland ist sie schon lange verbunden. Als Schülerin pendelte sie von Oslo nach Hamburg, um sich von Kolja Blacher zwiebeln zu lassen, später studierte sie bei Ana Chumachenco in München; beides Lehrer, die eine stattliche Reihe großer Geiger hervorgebracht haben.
Nach ihrer bahnbrechenden CD mit Mozart-Violinkonzerten vom vergangenen Jahr hat Frang für Warner Classics mit dem hr-Sinfonieorchester unter James Gaffigan die Violinkonzerte von Britten und Korngold eingespielt. Beides echte Brocken. Seltsamerweise steht gerade das Britten-Konzert im Ruf, akademisch zu sein. „Dabei ist das eins der größten Dramen, die je für die Geige geschrieben wurden“, sagt Frang. „Es war eine Offenbarung für mich, als ich es kennenlernte. Ich wünschte, es würde viel häufiger gespielt! Die Leute sind jedesmal vollkommen fasziniert davon.“
Frang entfaltet Brittens Musik zu voller Größe
An den horrenden Anforderungen des Konzerts hat man schon gestandene Geiger scheitern hören. Nicht so Frang. Ihre Aufnahme ist einfach hinreißend. Frang ist dem Stück nicht nur spieltechnisch gewachsen, das sowieso. Vor allem aber entfaltet sie Brittens Musik, entstanden in den 1930er-Jahren im Angesicht des Zweiten Weltkriegs, zu voller Größe. Sie lotet das atmosphärische Spektrum in einer Wahrhaftigkeit aus, wie man sie nur selten erlebt. Vibrato, Artikulation, Klangfarbe, alle diese Gestaltungsmittel dienen dem Ausdruck. Selbst bei den aberwitzigsten Läufen hat sie etwas zu erzählen, statt sie als sportliche Herausforderung zu inszenieren.
Man hört, wie sehr Frang die Musik liebt. „Ich möchte nur Stücke einspielen, für die ich wirklich brenne“, sagt sie. „Es gibt so viele andere tolle Geiger, die das auch können.“
Mag sein. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern haben sich aber aus gutem Grund dafür entschieden, Frang in diesem Sommer als Preisträgerin in die Residenz einzuladen. 17 Mal tritt sie dort insgesamt auf, darunter an zahlreichen Kammermusikabenden. „Das ist für mich das Großartige an dieser Residenz“, sagt sie. „Es ist einfach wunderbar, mit Freunden zusammen zu musizieren.“
Zu ihren Kammermusikpartnern dort und anderswo gehört auch ihr Freund, der Cellist Nicolas Altstaedt. Mit ihm lebt sie in Berlin. Sehr oft ist sie allerdings nicht dort. Zweimal im Jahr unterrichtet sie an der Norwegischen Musikhochschule, sonst kommt sie nur für die Ferien nach Norwegen. Also selten. Freizeit im landläufigen Sinne passt in so ein Solistenleben schlecht hinein. Ob das nervt? „Ich hätte gern Tiere“, gesteht Frang. „Aber ich kann ja nicht einmal einen Kaktus haben!“
Den kann man sich in einem norwegischen Wald allerdings ohnehin nicht recht vorstellen.
NDR Elbphilharmonie Orchester, Vilde Frang, Sakari Oramo, Do 16.6., 20.00, und 19.6., 11.00, Laeiszhalle. Karten zu 11,- bis 51,- plus Vvk.-Gebühr unter T. 44 19 21 92
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kultur & Live