Hamburg. Philipp Brandt raucht am überdachten Haupteingang des Genueser Schiffs eine Filterzigarette und starrt angestrengt hinaus in die regenverhangene Dunkelheit. Der scharfe Wind von der Ostsee treibt schwere Regentropfen diagonal durch die Luft. Es ist kurz vor halb sieben und der Saal bereits halb voll, doch seitdem der Hotelier seinen heutigen Gast der ausverkauften Lesung vor knapp einer Stunde im Auto angerufen hat, ist er doch etwas nervös. Denn da rollte Dominique Horwitz gerade erst an Lübeck-Moisling vorbei, die A 1 war ziemlich voll, und bis Hohwacht sind es von dort noch fast 90 Kilometer.
Der Schauspieler, Sänger und Regisseur, der neuerdings auch schriftstellert, kommt von seiner „Tod in Weimar“-Lesung aus Bremerhaven, mit dem eigenen Wagen. Er hatte sich jedoch in Hamburg beim Zwischenstopp mit seiner ältesten Tochter verquatscht. „Aber er wollte Gas geben“, sagt Brandt mit dumpfer Stimme, denn er denkt jetzt weder an den bevorstehenden Soundcheck noch an einen verspäteten Beginn der Lesung. Nein, er denkt an Aquaplaning und vor allem an den starken Wildwechsel, der auf der Bundesstraße 202 auf dem 15 Kilometer langen Streckenabschnitt zwischen Oldenburg-Süd und Kaköhl herrscht, wo Horwitz nach rechts auf die Kreisstraße 45 Richtung Hohwacht abbiegen muss, die dann weitere sieben kurvenreiche Kilometer durch welliges Ackerland führt. Die Einheimischen fahren hier grundsätzlich sehr bedächtig.
Doch das Damwild, das hier im ostholsteinischen „Grafenwinkel“ mit tragischer Regelmäßigkeit für Kollateralschäden von Menschen und Maschinen sorgt, hatte wohl Respekt vor dem kapitalen Mercedes-Geländewagen, der 30 Minuten vor Beginn der Lesung auf den Parkplatz des Hotels einbiegt. Vielleicht aber hatte Horwitz auch nur das unverschämte Glück des Ahnungslosen. Der 58-Jährige springt federnd aus dem Auto, in der Hand einen schwarzen Notenständer, über der Schulter eine Ledertasche. Seine Miene drückt aus: Alles im Griff, Herr Brandt! Wo steht das Klavier?
Auf der Minibühne im umgestalteten Hotelrestaurant steht aber nur ein mächtiges Stehpult, drum herum sind Stühle und Polsterbänke im Halbkreis aufgestellt, exakt 132 Plätze, mehr geht beim besten Willen nicht. Viele Sitzflächen sind mit Schals drapiert, so wie die Urlauber auf Mallorca ihre Liegestühle am Pool mit Handtüchern blocken. Etwa 30 Gäste sichern ihren Platz lieber persönlich, manche harren schon über eine Stunde aus. Drüben, in der Hotelbar, herrscht derweil Hochbetrieb. Alle zehn Tische sind besetzt, es duftet nach Bratkartoffeln, der Tresen ist dicht umlagert.
Nur 35 Bücher zum Signieren bei132 Zuhörern? Horwitz ist entsetzt
„Wie viele Leute kommen denn eigentlich?“, fragt Horwitz. „Wir hätten auch 250 Karten verkaufen können“, antwortet Brandt leise und schaltet die gemietete Gesangsanlage für den Soundcheck ein. „Das Stehpult nehmen wir dann aber schon mal weg“, sagt Horwitz, klappt seinen Notenständer auseinander und schnappt sich das Mikrofon. Er spricht ein paar zusammenhanglose Wörter abwechselnd laut und sehr leise hinein, stimmt kurz ein Chanson von Jacques Brel an und befindet schließlich: „Das Mikrofon brauche ich auch nicht. Es ist zu laut. Es ist viel zu laut!“
„Als Schauspieler kennen Sie Ihre Stimme natürlich am besten“, sagt Brandt, jedoch nicht ohne Skepsis, denn im Genueser Schiff hat schon der eine oder andere, sogar große Autor seinen Auftritt mit Grandezza vernuschelt. Wobei diese Gefahr bei Horwitz gering sein dürfte.
Das Hotel ist nach einer Zeile aus einem Nietzsche-Gedicht benannt („Offen liegt das Meer, ins Blaue – Treibt mein Genueser Schiff“), was Philipp Brandts Mutter, Gabriele Gräfin von Waldersee, zu verdanken ist: Die literaturaffine Landadelige hatte 1950 damit begonnen, die Fundamente eines Flakbunkers der Marine (den irgendjemand schon am Tag nach der Kapitulation ungefragt zum Café Kleine Brise umfunktioniert hatte, obwohl es sich um das Land derer von Waldersee handelte) als Grundlage für eine geplante „Sommerfrische“ mit zunächst sechs rustikal eingerichteten Zimmern zu nutzen, aus der dann peu à peu das schneeweiße, reetgedeckte Haus am Ostseeufer entstand. Auch Jahre nach dem Tod der Gräfin finden Übernachtungsgäste in jedem der 38 Zimmer mindestens zwei Dutzend Bücher zur Auswahl vor.
„Darf ich Ihnen rasch Ihr Zimmer zeigen?“, schlägt der Hotelier vor. Horwitz goutiert das Angebot mit einem Nicken. Sich noch einmal frisch zu machen, so richtig anzukommen, sei immer gut, sagt er. Außerdem müsse er noch dringend telefonieren. Seine Miene verdüstert sich jedoch sofort, als ihm der Büchertisch der Buchhandlung Schneider aus Plön vor dem Eingang zum Saal ins Auge fällt. „Das sind ja höchstens 25 Exemplare“, sagt er mit unverhohlener Empörung in der Stimme, „wie jetzt: und nur fünf Hörbücher?!“
„Das hatte ich bereits moniert“, sagt der Hotelier zerknirscht, um die Stimmung hochzuhalten.
„… und das, obwohl wir ausverkauft sind?!“, fährt Horwitz fort und straft Thelsa Arndt, die Angestellte der Buchhandlung, mit einem tadelnden Blick.
„Es sind 35, Herr Horwitz!“, korrigiert sie ihn tapfer. Und außerdem sei ja nicht sie für die Bestellung verantwortlich, sondern ihr Chef.
Große Verlage managen diese Form von Buchtourismus schon professionell
„Gerade deswegen sind es viel zu wenige“, sagt Horwitz und geht durch die kleine Empfangshalle ab, die knarzende Holztreppe hinauf, dem Hotelier hinterher. Er weiß ja, dass die Leute heutzutage gern zum Signieren kommen, wofür man jedoch ein Buch benötigt. Und da fast alle seiner bisherigen Lesungen ausverkauft waren, kann das zeitaufwendige Tingeln durch die Provinz auch zur Auflagensteigerung erheblich beitragen. Was ihm, wie vermutlich den meisten Autoren, neben dem direkten Kontakt zu den Leserinnen und Lesern, mindestens ebenso viel bedeutet wie die zum Teil recht üppigen Honorare, die sie inzwischen für Auftritte verlangen können.
Gerade dann, wenn sie, wie Horwitz, den Promi-Bonus im Gepäck haben, müssen zumeist mindestens vierstellige Abendgagen bezahlt werden. Die Situation ist in etwa vergleichbar mit der Entwicklung in der Popmusikbranche, in der aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung immer weniger „haptische“ Tonträger verkauft werden, das „Streamen“ von Hits längst nicht so einträglich ist wie ursprünglich gedacht und die sinkenden Erlöse irgendwie kompensiert werden müssen.
So erklärt sich der Eintrittspreis von 17 Euro im Vorverkauf (und von 19 Euro an der Abendkasse), den Brandt konsequent aufruft, seitdem er seine „Literatur am Meer gelesen“-Reihe vor ein paar Jahren ins Leben gerufen hat. Als einen weiteren „Point of Sale“ gegenüber den Mitbewerbern an diesem beliebten Urlaubsort, weil schicke Zimmer und Meerblick nebst guter Küche und attraktivem Weinkeller allein nicht mehr genügen, „um die Wurst vom Teller zu ziehen“. Darüber hinaus böten Lesungen immer wieder die Möglichkeit, in der lokalen und regionalen Presse zu erscheinen, ohne Anzeigen schalten zu müssen – was auch den Schriftstellern diene, meint Brandt.
„Lesereisen sind wichtig, um Titel und Autor bekannter zu machen. Rein aus PR-Sicht sind die Berichte in der Lokalpresse sogar entscheidender als die Anzahl der Besucher“, glaubt auch die Hamburger Bestseller-Autorin Sylvia Lott, die mit ihrem neuen Liebesroman „Die Inselfrauen“ in den kommenden Monaten mehrere Dutzend Lesungen absolvieren wird.
In den (größeren) Verlagen wird dieser Buchtourismus deshalb schon seit Längerem von eigenen Abteilungen professionell gemanagt. „Gerade weil die Nachfrage nach Hörbüchern stetig wächst und der Online-Verkauf ebenfalls zunimmt, werden Lesereisen als Marketing-Tool intensiviert“, sagt Katrin Wurch vom Münchner Knaus-Verlag, der „Tod in Weimar“ herausgebracht hat. „Für die Autorinnen und Autoren, aber auch für die traditionellen Buchhändler bieten Lesungen de facto die einzige Möglichkeit, sich persönlich zu positionieren.“
Vielen Schriftstellern dient die Lesereise auch zur Seelenmassage. Angesichts von mittlerweile rund 190.000 Neuerscheinungen pro Jahr – Koch- und Bastelbücher inbegriffen – befinden sich auch bekannte und erfolgreiche Schriftsteller in einem zunehmend härter werdenden Verdrängungswettbewerb. Die Münchner TV-Moderatorin und Autorin Amelie Fried etwa freut sich besonders darüber, die vielen engagierten Buchhändler kennenzulernen, die es (noch) überall gebe. „Sie machen sich große Mühe, damit wir Autoren uns wohlfühlen und das Publikum einen interessanten Abend erlebt. Von manchen Buchhandlungen werde ich regelmäßig eingeladen, und es ist jedes Mal großartig, die Wertschätzung zu spüren, die mir dort entgegengebracht wird“, sagt sie. Häufig bekomme sie auch ein Buch geschenkt, meistens einen Fotoband über die Stadt oder die Region, in der sie sich gerade befinde.
Lesereisen seien aber auch anstrengend, weil man für die zwei gemeinsamen Stunden mit seinen Lesern 24 Stunden unterwegs sei. „Aber ich liebe es, meinen Lesern von Angesicht zu Angesicht gegenüberzusitzen.“ Das Schreiben sei ja eine einsame Tätigkeit, für die man – außer durch die Buchverkäufe – mit dem Interesse und der Zuwendung derjenigen belohnt werde, die zu den Lesungen kommen. „Mich rührt es jedes Mal, wenn ich die vielen Menschen sehe, die extra gekommen sind, nur um mich vorlesen zu hören. Natürlich spielt in meinem Fall auch eine gewisse Neugier auf die ‚Fernsehnase‘ mit, die man gerne mal live sehen möchte. Aber die angeregten Frage-und-Antwort-Runden und Gespräche nach den Lesungen zeigen mir, dass es nicht nur darum geht …“
Das finanzielle Risiko einer Lesung tragen immer die privaten Veranstalter. „Heute Abend rechnet es sich“, sagt Philipp Brandt, während er das Stehpult wie von Horwitz gewünscht von der Bühne hinunterwuchtet. Aber er habe auch schon mittlere Katastrophen erlebt. „Gastronomie ist unberechenbar“, gibt der Hotelier zu, „aber Lesungen sind das leider auch, selbst wenn ich fest an sie glaube.“
So lädt er unverdrossen möglichst namhafte Schriftsteller zu sich an die Küste ein. Wladimir Kaminer und Ulla Hahn, Frido Mann, Andreas Englisch und auch Amelie Fried – um nur einige zu nennen – haben bereits hier gelesen. „Aber es war ein mühsamer Weg, die Veranstaltung hier oben bei uns zu etablieren“, sagt Brandt, „zuerst nimmt dich keiner ernst, dann melden sich die Neider zu Wort, doch wenn es dann tatsächlich über einen längeren Zeitraum funktioniert, wollen es alle gewusst haben.“ Dann kämen die Nachahmer um die Ecke, sodass es immer schwieriger werde, Termine zu finden.
Deshalb müsse er die Autoren besonders „begöschern“, denn die Höhe des Honorars sei nun mal nicht alles. Dazu gehöre unter anderem ein Drei-Gänge-Menü nach der Lesung, inklusive korrespondierender Weine und ausgesuchter, belesener Gäste. Zumeist serviert Brandt als Hauptgang gebratenen Angeldorsch, „die meisten bevorzugen ja was Leichtes zum schweren Bordeaux“, sagt er.
So viel Gastfreundschaft spricht sich in der Literaturszene offenbar herum, deren Mitglieder sich ihr Abendessen in der Provinz auch schon mal aus einem Süßigkeitenautomaten am Bahnhof ziehen müssen. So haben für dieses Jahr bereits Thea Dorn, Meike Winnemuth und Rüdiger Safranski ihre Teilnahme an der Hohwachter Lesewoche im September fest zugesagt. Es sind prominente Namen, aber noch lange keine Garantie für die angestrebte gegenseitige Bereicherung.
Der Super-GAU für alle Beteiligten ist natürlich ein leerer Saal. So erzählt der von der Kritik hoch gelobte Wahl-Berliner Michael Kleeberg („Vaterjahre“) von seiner „traumatischen Lesung“ in der renommierten Düsseldorfer Heinrich-Heine-Gesellschaft: „Dort las ich vor gerade mal fünf Zuhörern. Am Abend davor in Köln war der Saal ausverkauft gewesen, trotz herrlichen Wetters. Seitdem weiß ich wenigstens, dass es weder am Buch noch an mir liegen kann, wenn keiner kommt. Aber erklären kann ich das auch nicht.“
Nicht selten haben Autoren auch mit ungünstigen Rahmenbedingungen zu kämpfen; je tiefer es sie in die Provinz verschlägt, desto eher. Sylvia Lott zum Beispiel erinnert sich mit Schaudern an ihren Auftritt auf der Messe „Rhodo 2014“ in einer riesigen Pflanzenschauhalle in Westerstede, wo sie aus ihrem Roman „Die Rose aus Darjeeling“ las: „Vor der Bühne war eine Tanzfläche, dann kamen mehrere Reihen Holzstühle und dahinter noch ein Café – die Zuhörer waren also weiträumig verteilt, obwohl der Stoff nach Kerzenlicht und Intimität förmlich schreit. Während ich las, marschierten ununterbrochen Pflanzenexperten durch die Halle, um Rhododendren zu begutachten, und direkt hinter mir kämpften angehende Floristen in mehreren Kategorien um das jeweils beste Blumengebinde, wobei sie mit Sprechchören von ihren Fans angefeuert wurden.“
Im Gegensatz dazu wissen die Bildungsbürger aus dem „Grafenwinkel“, wie man sich zu benehmen hat. Pünktlich um sieben ist das zum Lesesaal umgebaute Hotelrestaurant bis auf den letzten Stuhl besetzt, werden die Mobilfunktelefone freiwillig ausgeschaltet. Es könnte also langsam mal losgehen. Fehlt bloß noch jemand: Dominique Horwitz.
Eine Viertelstunde später erscheint er dann, endlich, unterm Arm ein Manuskript, auf festem Papier gedruckt. Doch zunächst ordnet er (verdächtig absichtlich) umständlich sein Manuskript und gesteht lächelnd und in wohldosiertem Plauderton, dass sein Leben im Grunde ein einziges Chaos sei. Er gewährt tiefe Einblicke in sein Leben, bis hinunter in sein Herz. Gestern Bremerhaven, heute Hohwacht, morgen Moers, übermorgen Gotha. Dazwischen die Arbeit. Die Schreiberei, ja, natürlich, aber er spiele ja zurzeit noch den „Wallenstein“ im Weimarer Nationaltheater, und außerdem stünden im Frühling noch mehrere Liederabende an. Und zwischendurch fahre er immer wieder zurück nach Weimar, zu seiner Frau Anna, seinem Stern, seinem Alles, die in seinem Roman Laura heißt und ebenfalls ein Restaurant besitzt. Das Publikum lauscht gebannt, und Philipp Brandt, der sich im Hintergrund hält, atmet auf: Denn Horwitz‘ geschulte Stimme dringt auch ohne Verstärkung problemlos bis zur letzten Stuhlreihe durch.
Das Intro dauert gut zehn Minuten, aber dann wird es ernst, als Horwitz mit der eigentlichen Lesung beginnt. Nein, es wird sogar ziemlich lustig, denn er hat sich mit „Tod in Weimar“ – einer Hommage an seine Wahlheimat – ein Ein-Personen-Stück auf den eigenen Leib geschrieben. Die Kriminalkomödie dreht sich um einen Kutscher zwischen zwei begehrenswerten Vollweibern und eine Heerschar ebenso betagter wie skurriler Schauspieler, die in ihrem Altersruhesitz, der Villa Gründgens, eine unheimliche Mordserie nur teilweise überleben werden.
Mühelos schlüpft Horwitz in jede seiner Figuren: in sein Alter Ego, den Kutscher, den unfreiwilligen Mordermittler und ehemaligen Schauspieler Roman Kaminski (der einst auf der Theaterbühne „in Bruchsal weltberühmt war …“), oder in die mannstolle Heimleiterin Trixi Muffinger oder in den ebenso greisen wie kauzigen Mimen Leo Bamberger, der den jüdischen Part des Buches bestreitet, was aufgrund der räumlichen Nähe Weimars zum KZ Buchenwald zwingend logisch erscheint. Und wenn dann der ehemalige Buffo-Tenor Erwin Reichenbach (der „in Wuppertal weltberühmt gewesen ist“) am Klavier „Are You Lonesome Tonight“ intoniert, fängt Horwitz sogar zu singen an. Fast wie Elvis.
Ohne Frage ist er ein Meister der peniblen Beschreibung von Orten, Dingen und Situationen; am besten aber kommen seine – durch Roman Kaminski geäußerten – süffisanten und ironischen Interpretationen abstruser menschlicher Befindlichkeiten beim Publikum an. Gelesen könnte das alles jedoch, trotz zahlreicher, irrsinnig komischer und manchmal auch anzüglicher Sprachwendungen, gelegentlich ein wenig langatmig sein. Aber von Horwitz vorgelesen ist „Tod in Weimar“ zweifellos perfektes Entertainment auf hohem Niveau, obwohl er die eigentliche Handlung des Buches (die Jagd nach einem unheimlichen Serienmörder nämlich) nur am entferntesten Rand streift. Das sollen die Leute gefälligst selber lesen, so wie auch die saftigen Stellen. Schon jetzt wird klar: 35 Bücher und fünf Hörbücher sind zu knapp kalkuliert.
Nachdem der angeschwitzte Autor nach 75 Minuten die Standing Ovations des Publikums mit einer gewissen professionellen Rührung entgegengenommen hat, folgt der eigentliche Höhepunkt der Lesung (wahrscheinlich einer jeden Lesung): wenn das Publikum jetzt Fragen an den Autor stellen darf. Sofort schnellt der welkfleischige Arm einer irgendwie alterslosen Dame mit stark geschminkten, hohen Wangenknochen und flotter Kurzhaarfrisur in die Höhe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie die gesamte Lesung über keine Reaktion gezeigt.
Ein Phänomen, das auch Amelie Fried schon häufig erlebt hat: „Bei fast jeder Lesung gibt es jemanden, der genau vor einem sitzt und den ganzen Abend keine Miene verzieht, was sehr irritierend sein kann“, sagt sie. „Man beginnt, nur noch für diese eine Person zu lesen, immer wieder zu ihr zu blicken, ob vielleicht endlich ein Lächeln oder eine andere Reaktion kommt. Danach ist man oft ziemlich frustriert. Man denkt, der ganze Abend war ein Fehlschlag, weil man es nicht geschafft hat, diesem einen Menschen eine Regung zu entlocken. Und dann kommt meistens genau diese Person zum Signieren an den Tisch und sagt: ‚Vielen Dank, das war ein besonders schöner Abend!‘“
Doch in Hohwacht endet diese Geschichte anders: „Bitte!“, sagt Dominique Horwitz und erteilt der Fragerin das Wort. Es ist der Startschuss zu einem ausschweifenden Kurzreferat, in dem die Dame (die selbstverständlich „schon mehrere Male in Weimar gewesen ist und die Stadt dementsprechend gut kennt …“) in einem einzigen, atemlosen Bandwurmsatz, der mit Kommata, Semikolons und Gedankenstrichen gespickt ist, Horwitz‘ Wirken und Schaffen im Allgemeinem und Besonderen, ihre eigenen An- und Einsichten über Weimar, die deutsche Literatur schlechthin, Goethe und Schiller, das benachbarte KZ Buchenwald sowieso und Horwitz‘ Performance an sich und überhaupt überschwänglich lobt. Nach drei, gefühlt sind es sechs Minuten, schwillt das Räuspern und Murmeln des Publikums zu einem gnadenlosen Crescendo an. „Was war noch mal Ihre Frage?“, fragt Horwitz, der bisher keine Miene verzogen hat. „Ja, also, ich würde jetzt mal gerne von Ihnen wissen … (Horwitz hebt jetzt die linke Augenbraue) … also wie, von was, ich meine woher Sie Ihre ganze Kreativität beziehen.“
Die irritierten Blicke der Besucher sagen ihm, dass es jetzt Zeit für die Pointe ist
Die Anspannung des Publikums entweicht nun zischend wie die Luft aus einem löcherigen Fahrradschlauch. Horwitz kratzt sich am Kinn. Er wiegt seinen Kopf hin und her und deutet dann mit dem Zeigefinger auf den Hotelier, der im Türrahmen des Restaurants steht. „Gibt es hier vielleicht einen guten Weißwein?“, ruft er. Philipp Brandt nickt. „Das sollte sich machen lassen“, entgegnet er, doch etwas pikiert. „Dann hätte ich jetzt doch gerne eine Schorle!“, sagt Horwitz, was im Publikum sofort eine Bö der kollektiven Heiterkeit auffrischen lässt. Eine harsche Handbewegung des Zeremonienmeisters sorgt jedoch augenblicklich für Ruhe. „Wissen Sie, meine Damen und Herren“, sagt Horwitz ernst, „die Franzosen sehen das viel lockerer. Sie wissen vermutlich, dass ich in Paris geboren wurde. Und in Frankreich trinkt halt jeder einfach, was er will.“ Jetzt schweben Engel durch den Raum. „Niemand rümpft die Nase, wenn es jemanden nach Weinschorle gelüstet“, fährt er fort. Das Publikum seufzt betreten, und Horwitz sagt genüsslich: „Das wird schlichtweg nicht kommentiert …“ Andächtige Betroffenheit legt sich über den Saal. Viele Zuhörer wirken geradezu beschämt, weil sie es gewagt hatten, das Verlangen des Meisters nach einer schnöden Weißweinschorle infrage zu stellen.
„Aber nun zurück zu Ihnen, gnädige Frau!“, sagt Horwitz, während er das rasch gereichte Weinglas aus der Hand des Hoteliers entgegennimmt und einen großen Schluck trinkt. „Also wissen Sie, das kann ich Ihnen gar nicht so genau beantworten. Ich arbeite wahnsinnig viel, ich habe immer schon wahnsinnig viel gearbeitet.“
Und dann erzählt er von den zahlreichen Projekten, die er zurzeit in der Mache habe. Von Bühnenauftritten, denen sich nahtlos Lesungen anschließen, sowie dem Besuch im Tonstudio, wo er Hörbücher eingelesen habe. Von den Jacques-Brel-Liederabenden, vom Weimarer „Tatort“-Auftritt (gemeinsam mit Christian Ulmen), von seinen schier endlosen Auto- und Zugfahrten quer durch Deutschland, „wobei ich im ICE wenigstens schreiben kann, so wie auch in Cafés, in Restaurants oder in Hotelzimmern – am liebsten natürlich zu Hause in Weimar“, sagt Horwitz. „Manchmal betrachte ich mich dort im Spiegel und sehe einen Dominique Herkules Horwitz“, dröhnt Dominique Vorwitz.
Und da er jetzt in 132 zunehmend irritierte Gesichter blickt, weiß er, dass er die Pointe abfeuern muss: „Und dann stand ich neulich im Bochumer Schauspielhaus auf der Bühne. Ein Strawinsky-Text, ein Rezitativ, ein wirklich sehr schwieriger Text … Da bin ich nach drei Minuten einfach umgefallen. Es war zum Glück kein Infarkt, aber hinter der Bühne habe ich mich erst einmal erbrochen.“ Also doch kein Übermensch, denken vermutlich die Gäste.
„Hat denn jemand noch eine Frage?“, ruft er in den Saal. Die stark geschminkte Dame meldet sich. „Sie sind aber zäh!“, sagt Horwitz, und erneut brandet Gelächter auf. „Ja, das bin ich“, entgegnet sie, „aber ich kann auch sehr zärtlich sein, Herr Horwitz!“
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