Lesung auf der Reeperbahn

Der Autor Navid Kermani geht ins Bordell

| Lesedauer: 3 Minuten
Heinrich Oehmsen
Navid Kermani hat sich den Puff als Lesungsort explizit gewünscht

Navid Kermani hat sich den Puff als Lesungsort explizit gewünscht

Foto: picture alliance / Sven Simon

Der Schriftsteller las und debattierte mit vier Schauspielern im „Pink Palace“ auf der Reeperbahn

Hamburg.  Gott sitzt in Raum 109. In einem weißen Gewand hat er sich auf einem rot bezogenen Doppelbett ausgestreckt und liest über den guten Hirten. Das Bild dazu, im 5. Jahrhundert als Mosaik entstanden und im Original in Ravenna zu sehen, steht auf dem Fensterbrett und wirkt in dem kahlen Raum etwas deplatziert.

Auf einem schmalen Regal über dem Bett sind zwei Paare glitzernder High Heels drapiert, im Volksmund heißen sie „Nuttenstiefel“. Anders als das Heiligenbild gehören sie zum Inventar der engen Klause. Raum 109 ist ein Zimmer im Bordell „Pink Palace“ an der Reeperbahn, im Gewand mit dem goldenen Aufdruck „Gott“ sitzt Sebastian Rudolph. Er ist einer von vier Schauspielern, die an diesem trüben Sonntagabend aus Navid Kermanis Buch „Ungläubiges Staunen“ lesen.

„Herzzentrum“ heißt das Projekt von Thalia Theater und Schauspielhaus

„Herzzentrum“ heißt das Projekt von Thalia Theater und Schauspielhaus, das sich seit 2012 zuerst mit Kermanis 1200-Seiten-Werk „Dein Name“ und nun mit seiner Schrift über das Christentum beschäftigt. Nach Theater, Riesenrad und Moschee liegt das „Herzzentrum“ jetzt in einem Puff .

Die beiden Teilnehmergruppen, auf zwölf Personen limitiert, werden von den Prostituierten aufmerksam registriert, die auf Stühlen vor ihren Zimmern auf Kunden warten. Während die Literaturinteressierten den Schauspielern Rudolph, Ute Hannig und Barbara Nüsse sowie Kermani selbst über das enge Treppenhaus hinterherstiefeln, läuft der Bordellbetrieb weiter.

Kermani das Bordell gewünscht, weil dort Konventionen außer Kraft gesetzt werden

Kermani hat sich diesen Ort gewünscht, weil ein Bordell – genau wie ein Theater, ein Gefängnis oder eine Festwiese – nach Definition des Philosophen Michel Foucault eine Heterotopie ist, also ein Ort, an denen Konventionen außer Kraft gesetzt werden dürfen. Sex, Körper und Schönheit sind in Kermanis Buch wichtige Themen. Er selbst erklärt in „Liebe II“ Grecos Bild „Der Abschied Christi von seiner Mutter“, auf dem Maria und Jesus sich wie zwei Liebende anschmachten und Maria alles Mütterliche fehlt.

„Herzzentrum“ ist mehr als eine Lesung, jeder der Vortragenden bringt eigene Erfahrungen ein. Barbara Nüsse erklärt den Unterschied zwischen Johannes- und Thomas-Evangelium, Ute Hannig ergänzt Kermanis Text mit einem Märchen, der Autor selbst hat Musik von Neil Young mitgebracht. Kermani gilt auch als Experte für das Werk des Rockmusikers. Er hat den Song „Ramada Inn“ über ein Ehedrama dabei und reicht einen CD-Player mit dem Lied herum. Draußen wummert jemand an die Tür. Die Zeit ist abgelaufen. Die nächste Gruppe wartet schon.

„Herzzentrum IX“ läuft bis zum 5.2. im „Pink Palace“, alle Vorstellungen sind bereits ausverkauft