Seine Karriere wäre in Ochsenzoll fast beendet gewesen, bevor sie überhaupt beginnen konnte. Bei einer Kindergeburtstagsfeier auf der Rollschuhbahn holte ein anderer Jugendlicher Sebastian Knauer von den Beinen. Der 13-Jährige stürzte, zuckte zusammen und spürte nur noch einen stechenden Schmerz im rechten Arm. Unnatürlich hing der Arm herunter, Elle und Speiche waren gebrochen. Schlimmer noch als der Schmerz war die Angst: „Mir schoss als erstes der Gedanke durch den Kopf: War’s das mit dem Berufswunsch Pianist?“
Diesen Traum hatte er schon als Vierjähriger formuliert, in einem Alter also, in dem Jungs entweder für ein Leben als Lokomotivführer oder Feuerwehrmann schwärmen. „Davor schon hab ich angeblich immer geschrien und geweint, wenn Klaviermusik bei uns gespielt wurde. Dann hieß es: ,Entweder er ist wahnsinnig begabt und kann das nur noch nicht richtig ausdrücken, oder er hasst es.‘ Es war doch wohl das Erste; und ich bekam musikalische Früherziehung und Klavierunterricht.“
Als Zwölfjähriger tritt er mit Stücken aus Schumanns „Kinderszenen“ auf
Klassische Musik spielte in seinem Elternhaus eine große Rolle. Sein Vater Wolfgang Knauer leitete lange Zeitden Sender NDR 3 (später NDR Kultur) und schrieb als Macher der Satire-Sendung „Reißwolf“ Radiogeschichte. Seine Mutter Christa verfasste für die Deutsche Presse-Agentur Konzertrezensionen und engagierte sich jahrelang für „Jugend musiziert“.
Mit noch nicht einmal fünf Jahren bekam er seinen ersten Klavierunterricht, später lernte er auch Geige und Oboe. Mit neun Jahren durfte er als Gewinner eines Abendblatt-Preisausschreibens mit Richard Clayderman gemeinsam auf der großen Bühne im CCH auftreten. Der kleine Sebastian spielte Brahms’ „Wiegenlied“, der große Pariser Pianist war begeistert und lobte den Hamburger Buttje als „großes Talent“. Sebastian diktierte dem Kulturredakteur in den Block: „Ein wenig Lampenfieber hatte ich schon. Aber ich übe ja seit drei Jahren jeden Tag.“ Später möchte er einmal in die Fußstapfen seines Idols treten und ein berühmter Pianist werden.
Als Zwölfjähriger tritt er mit Stücken aus Schumanns „Kinderszenen“ auf, als 13-Jähriger gewinnt er den Hamburger Landeswettbewerb „Jugend musiziert“ und darf als Solist mit den Hamburger Symphonikern in der Laeiszhalle sein Debüt geben: Am 17. Februar 1985 spielt er dort das Klavierkonzert D-Dur von Haydn. „Für mich gab es aber immer noch andere Sachen als die Musik“, sagt Knauer. „Ich war ein ganz normaler Junge.“ Leidenschaftlich lief er Ski und spielte beim Club an der Alster Hockey. Mit seiner Mannschaft wurde er deutscher Vizemeister. „Wir hatten zwei- bis dreimal die Woche Training und am Wochenende Spiele. Das alles neben der Schule zu machen, wäre heute aufgrund des ganztägigen Unterrichts kaum möglich.“
Rückblickend werden die Weichen erst 1987 gestellt: „Da hat es richtig Klick gemacht“, sagt Knauer. In diesem Jahr gewinnt er beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ den ersten Platz und zahlreiche Sonderpreise mit Beethovens „Sturmsonate“, die er bis heute gern spielt. „Das war für mich ein innerer Wendepunkt. Plötzlich war mir klar: Wenn ich mich richtig reinknie, kann ich etwas werden.“ Er kniete sich rein. „Pianist ist ein Beruf, der unglaublich viel Fleiß verlangt. Doch Fleiß allein reicht nicht – Talent macht den größeren Teil aus. Eine lange Karriere macht nur, wer die Menschen erreicht, tiefer gehen kann.“
Er findet Freunde und Förderer in der Stadt. 1988 schlagen Peter Ruzicka und Gerd Albrecht das Hamburger Talent mit Erfolg für den Eduard-Söring-Preis vor, neben dem Albert-Schweitzer-Gymnasium studiert er seit seinem 15. Lebensjahr an der Hamburgischen Musikhochschule. Im September 1988 darf er als „Vorgruppe“ vor Lorin Maazels und dem Orchestre National de France vor fast 25.000 Zuhörern Chopin im Stadtpark spielen. „Der leichte Regen damals hatte die obere Hälfte der Tastatur leicht getroffen, sodass es eine rutschige Angelegenheit war“, erinnert sich Knauer. Mehrfach tritt er beim Schleswig-Holstein Musik Festival auf. Nur die Kritiker der Feuilletons mäkeln mitunter über „ein paar Anschlagsfehler“, bemerken spitz: „Die ,Revolutionsetüde‘ hatte Knauer exakter im Griff als das c-Moll-Prelude.“
Im Wendejahr gibt der Nachwuchsmusiker seinen ersten Solo Klavierabend in der ausverkauften Komödie Winterhuder Fährhaus mit Werken von Beethoven, Brahms, Prokofjew, Ravel. Bescheiden wehrt er sich gegen das Wunderkind-Image. „Jetzt sehe ich mich noch als Schüler, der Klavier-Erfolge sammelt“, sagt er 1989. Cool schmettert er die Frage nach „Herzklopfen?“ ab: „Kaum“, sagt der Gymnasiast. Mehr als 25 Jahre später klingt das anders. „Ich bin vor jedem Konzert hoch konzentriert und angespannt. Ich habe aber gelernt, mich bewusst in einen Tunnel zu begeben, was mich nur noch bei meinem Spiel sein lässt.“ 1991 wechselt er nach Hannover zum bekannten Klavierpädagogen Karl-Heinz Kämmerling. Immer häufiger führen ihn Tourneen ins In- und Ausland.
Wenige Monate nach der Wiedervereinigung lädt ihn das Gewandhaus in Leipzig ein – sein erstes Konzert im Osten führt ihn gleich in das bekannteste Musikhaus. „Wir bekamen einen Fahrservice von Audi und wurden in einer großen Karosse abgeholt. Dieses skurrile Bild zwischen vielen Trabbis werde ich nicht vergessen.“ Auf Konzertreisen lernt er das unbekannte Deutschland kennen und lieben: „Der Osten hat dieses Land unglaublich bereichert.“ Eine seine ersten Auslandsreisen führte ihn vor dem Mauerfall nach Danzig. „Damals schien mir dort alles völlig fremd zu sein, vieles war grau und kaputt; inzwischen ist es längst normal, nach Polen zu reisen.“ Knauer ist ein Teamplayer, tritt mit Weltstars auf, traut sich an besondere Formate. Er spielt mit den Philharmonikern Hamburg alle 27 Mozart-Klavierkonzerte und macht den Komponisten zum Thema einer Veranstaltungsreihe. Klaus Maria Brandauer rezitiert Briefe des Salzburgers, Knauer sitzt am Flügel, Gudrun Landgrebe liest von Mozart und den Frauen, Knauer spielt dazu; mit Hannelore Elsner und Martina Gedeck geht er sogar auf Tournee.
„Man kann nicht zuhause sitzen und warten, man muss sich etwas Besonders überlegen“, sagt Knauer. „Es hilft, sein eigener Manager zu sein“. Seit kurzem hat er sogar sein eigenes Festival. 2012 hat er Mozart@Augsburg gegründet. „Augsburg hatte früher ein reiches Konzertleben, das bringe ich jetzt in die Stadt zurück.“ Großartige Kollegen und Freunde wie der Geiger Daniel Hope, András Schiff, Renaud Capuçon, das Emerson String Quartett oder Sir Roger Norrington treten dann an ganz besonderen Spielstätten auf; Sponsoren gerade auch aus Hamburg fördern das ambitionierte Festival. „Ich habe ein großes Faible fürs Organisieren, das war schon in der Schule so.“ Und ihn treibt ein Ziel: Er möchte ein junges Publikum für Klassik (zu) begeistern. „Dafür muss man auch neue Wege gehen.“
Über 16 CDs sind von und mit Sebastian Knauer erschienen – das Repertoire reicht von Schubert bis Gershwin. Seine erste Solo-Schallplatte bringt er 1998 heraus. Zum Reichwerden taugen die Silberlinge längst nicht mehr, aber sie sind wichtig aus Prestigegründen, „Damit man etwas vorzuzeigen hat“. Auf einem gesättigten Markt - „fünfstellige Verkaufszahlen sind schon ganz toll – muss man sich etwas einfallen lassen, CDs brauchen eine Idee. Eine nennt sich „Ein Winter auf Mallorca“ und verbindet Chopin und Texte von Georges Sand, eine andere heißt „Vienna 1789“ und bringt Musik von Haydn, Beethoven und Mozart aus dem Revolutionsjahr zusammen. Die CD „East meets West“, die er gemeinsam mit Daniel Hope und dem Sitarspieler Gaurov Mazumdar aufnimmt, wird 2003 sogar für den Grammy nominiert. Und seine musikalische Liebeserklärung an Felix Mendelssohn-Bartholdy von 2009 zeigt ein Hamburger Elbpanorama auf dem Titel. Derzeit sind zwei weitere Tonträger in Vorbereitung, die er in Hamburg aufnehmen will.
„Ich bin ein unglaublicher Hamburg-Liebhaber und freue mich immer wahnsinnig, wenn ich in meine Stadt von einer Reise zurückkomme“, sagt Knauer, der mit seiner Familie in Eppendorf lebt. Sein Sohn ist 13, seine Tochter sechs Jahre alt – da versucht er gerade in den Ferien Zeit mit seiner Frau und den Kindern zu verbringen. „Ich bin sehr familiär veranlagt. Ich bin bis zu 200 Tage im Jahr unterwegs, da beginnt man seine Heimat besonders zu schätzen.“ Seine Konzerttourneen führen ihn durch ganz Europa, die USA, Asien und Südamerika. Er tritt in der Berliner Philharmonie auf, dem Wiener Konzerthaus oder dem Concertgebouw Amsterdam, dem Lincoln Center in New York oder dem Performing Arts Center in Peking.
Beim Staatsbesuch spielte er im Festsaal des Berliner Adlon für Bill Clinton. Die Weltsprache der Musik führt ihn auch an ungewöhnliche Orte. „Im Libanon mussten wir mehrfach Straßensperren passieren und schließlich wegen eines Schusswechsels umkehren“, erzählt Knauer. Er spielte in Myanmar, Indonesien und Jemen, also auch dort, wie es kein klassisches Konzertpublikum gibt. Wobei Reisen ein missverständlicher Begriff ist. „Man muss im Kopf hellwach sein, wenn man spielt, an einem Konzerttag ziehe ich mich gern zurück und ruhe mich aus“, sagt Knauer. „Erst nach dem fünften Konzert in Peking habe ich es geschafft, mir einmal die Mauer anzusehen.“ Die Finanzkrise aber ist auch an der Musik nicht spurlos vorübergegangen. „Spanien war einmal ein großes Tourneeland, heute ist sehr viel reduziert worden“, sagt Knauer. In Italien und Frankreich ist die Situation auch schwierig. „Bei der Kultur wird zuerst gespart.“
Gerade in Hamburg gebe es ein enormes Potenzial an musikalischem Talent
Und noch ein anderes Problem sieht er in fast jedem Konzertsaal. Der Klassikhörer werden immer älter, im Publikum sei man unter 50 schon jung. „Der Zugang wird immer schwieriger, weil auch in den Schulen viel zu wenig gezielt in Sachen Klassik unterrichtet wird. Warum wird in Musik nicht über Mozart und Beethoven geredet“, fragt der Pianist und verbirgt seinen Unmut nicht. „Wenn man einem Kind zwischen 8 und 15 ein lebendiges Bild von einem bedeutenden Komponisten wie Bach, Beethoven, Mozart oder Chopin verschafft, bin ich mir hundertprozentig sicher, dass es Lust bekommt, diese Musik mal bewusst zu hören, trotz des Zeitalters gefährlicher Abstumpfung durch Smartphones.“ Die Klassik bestehe seit Jahrhunderten.
Diese Potenziale will Knauer weiter heben helfen. Gerade in Hamburg gebe es enormes Potenzial. „Als Musikstadt in Deutschland stehen wir international gesehen sicherlich im Schatten von Berlin oder München. Aber wir haben schon jetzt erstklassige Hamburger Orchester und Konzertreihen mit vielen internationalen Gästen,ein bedeutendes Opernhaus mit einem top Balletensemble und bekommen nun auch noch ein, zwar viel zu teures, aber am Ende bestimmt grossartiges Konzerthaus.“ Die Elbphilharmonie kann der Klassik in Hamburg den Weg weiter bereiten. „Diese Musik ist so großartig und genial, die kann nicht sterben“, ist sich Knauer sicher. „Wir müssen nur dafür sorgen, dass sie für jedermann zugänglich bleibt oder wird, und dass sie nicht zum reinen Geschäft verkommt. Der eigentliche Star ist und bleibt Mozart, das sind nicht wir.“
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