Hamburg. Wer sagt denn, dass von der Musikindustrie vergebene Auszeichnungen wie der Grammy oder der Echo immer und überall nur an die Branchenlieblinge gehen, also an die, die noch halbwegs anständig Platten verkaufen, sich bereits über einen längeren Zeitraum Meriten im Business erworben haben und deren Namen jeder kennt? Immer mal wieder ringen sich die entsprechenden Jurys zu Entscheidungen jenseits des Erwartbarem durch. So kam in diesem Jahr beim Echo Jazz in der Kategorie „Sängerin des Jahres national“ nicht die verdiente Hamburgerin Ulita Knaus zum Zuge, sondern eine Künstlerin, die bis dahin allenfalls Insider auf dem Schirm hatten, und zwar als Pianistin. Ihr Debüt als Sängerin gab diese Johanna Borchert erst im vergangenen Herbst, allerdings mit einem (nicht nur) für deutsche Verhältnisse schlichtweg epochalen Album. Daran vorbeizugehen wäre keiner Jury mit Ohren am Kopf verzeihlich gewesen.
„FM Biography“ heißt das Werk, mit dem Borchert da plötzlich und fast wie aus dem Nichts als deutsche Seelenschwester einer Björk, einer Kate Bush oder Laurie Anderson auftauchte. Die zehn sparsam und sehr kunstvoll arrangierten Songs sind wie zehn Räume voller Geheimnisse, in die man Johanna Borchert mit einem Vertrauen folgt, über dessen Herkunft man sich selber wundert. Flüstern, Sprechgesang, kühne Intervallsprünge in den Melodien, zweite, verfremdete Stimmen, selbst eingesungene Chorpassagen: mit ihrer warm timbrierten Stimme, die in tiefen Lagen ebenso zuhause ist wie in den Höhen, geht Borchert künstlerisch so souverän um, als sei sie längst eine gestandene Vokal-Performerin. Doch bei aller handwerklichen Finesse: Hier ist eine auch intuitiv zutiefst begabte Künstlerin am Werk.
Die Platte ist ein Kunstwerk, bei dem es im wieder Neues zu entdecken gibt
Borchert weiß, dass „FM Biography“, anders instrumentiert und produziert, ein ziemlich gutes Pop-Album hätte werden können. Aber kein Song geht einfach so geradeaus. Die Platte ist ein Kunstwerk, bei dem es noch nach dem 20. Hören Neues zu entdecken gibt, Nuancen, Details, verborgene Schönheiten. Was diesem um vielfältigste Pianoklänge, rätselhafte elektronische Sounds (Shahzad Ismaily, New York) und sehr unkonventionell gespieltes Schlagzeug (Julian Sartorius, Bern) herum arrangierten Album noch eine besondere Signatur gibt, ist die Gitarre des britischen Groß-Improvisators Fred Frith. Neben dem vor vielen Jahren gestorbenen Derek Bailey ist Frith der bedeutendste Soundtüftler an der E-Gitarre, den die sogenannte Freie Musik je hervorgebracht hat. Ein Poet des Noise.
Ihm hat Johanna Borchert viel zu verdanken; nicht nur die Vollendung dieses Albums, auch dessen Entstehung. Denn natürlich kam Borchert nicht einfach aus dem Nichts; sie hat in Berlin Musik studiert und ab 2004 sieben Jahre lang in Kopenhagen am Rytmisk Musikkonservatorium alles aufgesogen, was einem dieses extravagante Lehrinstitut so anbietet.
Als Frith 2009 in Kopenhagen spielte, drückte Borchert ihm eine Aufnahme ihrer Band Little Red Suitcase in die Hand und organisierte für sich und die Kommilitonen einen Workshop mit ihm. Frith gefiel, was er hörte, und er gab der jungen Frau eine Empfehlung für das Mills College in Oakland, Kalifornien, an dem so unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten wie Dave Brubeck, Sofia Coppola oder Steve Reich als Studenten prägende Impulse empfingen. In diesem Vierteljahr am Mills College erschien Johanna Borchert erstmals die Möglichkeit am Horizont, dass das, was dort an Songmaterial und Skizzen entstand, wohl nicht für eine ihrer Bands bestimmt sein würde, sondern für ein Soloprojekt. Und solo, singend am Klavier, kann das Publikum in Hamburg sie am morgigen Freitag beim „Jazzhouse Wochenende“ auch im Knust erleben, nur wenige Tage, bevor sie bei der Echo- Jazz-Gala auf dem Gelände von Blohm + Voss ihre Trophäe entgegennimmt.
Nach den Standards, die Johanna Borchert mit ihren bisherigen Soloauftritten gesetzt hat, ist kaum damit zu rechnen, dass sie einfach Solostücke und Lieder aneinanderreiht. So versetzte sie auf der Jazzahead in Bremen 2014 das Fachpublikum mit einem sehr ungewöhnlichen Konzertformat in Erstaunen. Den aufgeklappten Deckel des Flügels hatte sie mit einem weißen Tuch bespannt und alles Bühnenlicht löschen lassen. Da saß sie dann im Dunkeln, in weißer Bluse und silbern wie ein Fischleib glitzernder Hose, spielte ihre intensive, unberechenbar zwischen Anleihen an Keith Jarrett und György Ligeti oszillierende Musik, sang zwischendurch und ließ über das weiße Flügeltuch Projektionen flirren – Wolken am Himmel, Farbverläufe.
„Ich denke viel in Bildern, auch beim Komponieren“, sagt Borchert, die in Bremen aufgewachsen ist und hier mit 14 Jahren als Pianistin in einer Band älterer Herren manches über den Swing lernte. Schon davor, bei geselligen Ereignissen, zu denen die Eltern sie mitnahmen, setzte sie sich bereitwillig ans Klavier, wenn irgendwo eines stand, und improvisierte. Die Schule der Klassik scheint auch in ihrem Hang zu harmonischen Akkordverläufen durch, doch da ist auch eine starke Liebe zum Groove und zur Abstraktion. „Aber was ich spiele, muss mich berühren“, sagt sie. „Und es muss wahr sein. In der Musik kann man sich ganz dem Augenblick hingeben. Wo kann man das schon? In allen anderen Begegnungen gibt es immer irgendwelche Einschränkungen. In der Musik mach ich mich nackt.“ Bis auf die Seele.
Johanna Borchert solo ,Fr, 22.5., 21.00, Knust
(U St. Pauli) Feldstraße, Tickets 27,50
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