Klassik

Grigory Sokolov veröffentlicht Live-Album

| Lesedauer: 7 Minuten
Joachim Mischke
Einer wie keiner:
Sokolov in seinem
Element
Mary Slepkova/DG

Einer wie keiner: Sokolov in seinem Element Mary Slepkova/DG

Foto: Mary Slepkova / DG

Nach jahrelangem Abwarten hat Grigory Sokolov ein Live-Album veröffentlichen lassen. Klavierabend in der Laeiszhalle.

Hamburg.  Er kam, spielte und verschwand danach wieder im Dunkel hinter der Saaltür, aus der er Richtung Flügel eilte, ehrfürchtig verkleidet in seinem Frack. Seine Programmankündigungen hatte er nach Lust und Laune gegeben und geändert. Interviews? Praktisch undenkbar. Publikumsnähe? Konnte man vergessen. Wenn er spielte im Dämmerlicht der Saalbeleuchtung, ohne das für ihn so ein Abend nicht möglich ist, wenn er da saß an den vielen Tasten mit ihren unendlichen Möglichkeiten, in Sekundenbruchteilen verheerende Detail-Fehler zu begehen, wenn er dort so saß, als hätte eine Muse ihn zum Rendezvous einbestellt? Dann blieb die Zeit stehen.

So war es beim letzten Auftritt von Grigory Sokolov. So war es jedes Mal. Man kann es nicht weniger euphorisch umschreiben. So wird es wohl auch in wenigen Tagen in der Laeiszhalle sein, angekündigt sind Werke von Bach, Beethoven und Schubert, nichts Außergewöhnliches eigentlich. Aber auf der Bühne ist: Sokolov. Was alles ändert.

Rubinstein soll ähnlich kompromisslos anders gewesen sein, Gilels ebenfalls. Alfred Brendel, abseits der furchterregenden Instanz Bühne ein verschmitztes Kerlchen mit skurrilem Humor, trat verdruckst auf und ab. Der Weg an die Tastatur ist für Eigenbrötler wie sie immer auch eine Qual gewesen, weil sie für einige Momente sichtbar und damit verwundbar waren, aber noch nicht unsichtbar hinter ihrer Kunst.

Kürzlich erst hätte man weltweit den 100. Geburtstag eines anderen Jahrhundertpianisten groß feiern müssen, der vergleichbar unwirsch bei sich blieb. Svjatoslav Richter, ein Russe mit einem Nussknackerkinn und einem Herz aus Gold. Kennen inzwischen viele höchstens noch als legendäre Referenzgröße von viel früher, als die Klassik noch auf verehrungswürdigen Vinylscheiben ins Wohnzimmer kam. In den ersten Jahren des Schleswig-Holstein Musik Festivals gab Richter dort, am liebsten in Scheunen und kleinen Sälen, Klavierabende für die Ewigkeit.

Die Sonderlinge sind selten geworden in der zurechtgefönten Klassikbranche

Richter tuckerte, so lautete eine Legende damals, mitsamt seiner Bücherkiste im Auto von einem holsteinischem Kuhdorf zum nächsten, Konzerte wurden in Windeseile organisiert, weil ihm danach war und niemand zu widersprechen wagte. Wahrscheinlich konnte Richter den kompletten Dostojewski auswendig – und jeden Künstleragenten von hier bis zum Ural mühelos unter den Tisch saufen. Ganz alte russische Schule. Wer damals in Heide, bei seiner „Träumerei“-Zugabe in einem Schützenfestsälchen namens Tivoli, nicht Rotz und Wasser vor Rührung heulte, kann nur tot gewesen sein.

Den Vornamen Grigory braucht es bei Richters Nachfolger schon längst nicht mehr; wer das „Davis“ beim Erwähnen von „Miles“ für nötig hält, ist ja, als Amateur enttarnt, ebenso raus aus diesem Spiel mit Bewunderung und Distanz. Sokolov also, Ex-Wunderkind, geboren in Leningrad, jahrzehntelanges Rätsel und inzwischen grauhaarige 65, hat eine Physiognomie wie ein leicht verschrobener Kleingärtner und ist ein radikaler Komplettverweigerer, wenn es um die Selbstdarstellung geht. Dieses scheue Versteckspielen, zurück hinter die enthüllende Fassade seines enormen Repertoires, beherrscht er virtuos, doch nichts davon wirkt aufgesetzt oder einstudiert. Der Mann ist so, der kann nicht anders. Er gibt gern sehr viele Zugaben, was seine Bewunderer stets riesig freut, auch da kann er scheinbar nicht anders. So viel Musik in ihm, die muss raus.

Die ganz großen Sonderlinge und Einzelgänger sind selten geworden in der zurechtgefönten Klassikbranche, die es gern fotogen hat und flott, jung und brav. Sokolov ist nichts davon. Er ist auch kein oberflächlicher Exzentriker, sondern ein penibler Zurechtrücker, der Balance liebt und Ansprüche anderer nicht mehr ertragen mag.

Nicht nur deswegen ist es eine Sensation, dass er das Betteln der Deutschen Grammophon erhörte und einen Salzburger Konzertmitschnitt zur Veröffentlichung freigab, der im Januar erschien und seitdem noch jeden Kritiker mit Ohren, Sinn und Verstand begeisterte.

Sokolovs letztes amtliches Album erschien 1996, Schubert, das Material dafür hatte er sicherheitshalber vier Jahre zwischengelagert. All das signalisiert: Wer ihn hören will, wer es wirklich ernst meint mit dieser Kunst, muss dorthin kommen, wo Sokolov spielt. Das füttert natürlich den Mythos, der wie aus der Zeit gefallen wirkt in einer digitalen Gegenwart, die alles überall und sofort bieten könnte. Auch das interessiert ihn überhaupt nicht.

Salzburg also, ein Festspiel-Konzert im kleineren, heimeligeren Haus für Mozart und nicht im Großen Festspielhaus. Aufgenommen 2008 – in einer Branche, die quartalsweise neue Talente zum Verglühen in die Umlaufbahn ballert, ist das Lichtjahre her. Warum Sokolov ausgerechnet dieser Abend als bleibender Wert angemessen erschien? Keine Ahnung. Obwohl: doch. Ein derart weit ausholendes Panorama aus Gefühlen und Strukturen, das von Rameaus fein verspieltem, quecksilbrig luftigem Barockgetriller in „Les Sauvages“ bis zur entrückten Klangfarbenmalerei Skrjabins reicht, den Weg über Mozart-Sonaten zu Chopins 24 Etüden nicht scheut, die er zu Bekenntnisstücken vertieft? Das ist ein furchterregend komplettes Programm, bei dem weniger begnadete Pianisten nur betreten das rettende Weite suchen können. Sokolov spielt so etwas, hintereinander weg. Einfach so, als ob es nichts wäre, weil es alles für ihn ist. Mit Orchestern tritt er längst nicht mehr auf. Unterordnen wäre undenkbar für ihn, selbst Einordnen in ein größeres Ganzes als das, was bei Solo-Auftritten unter seinen Fingen entsteht, will Sokolov sich nicht mehr antun. Zeitverschwendung. Konzentrationsverschwendung. Gefühlsverschwendung.

Bei vielen der handelsüblichen Virtuosen wird schnell klar, worin ihre Klasse besteht. Schlimmstenfalls im Circensischen, oft auch nur im Verständlichen. Wenn diese Fleißarbeiter überschaubar spielen, zeigt sich, was sie können und was nicht. Bei Sokolov bleibt das große, ewige Rätsel, das mit nur sehr wenigen Virtuosen verbunden ist: Wie? Wie weiß er so genau, wann ein Spannungsbogen eben gerade noch nicht reißt? Wie bekommt er eine Flügel-Mechanik dazu, einen Ton zu produzieren, der lebt? Zu vermuten ist, dass er es selbst auch nicht weiß, weil es einfach geschieht. Es wäre ihm zu wünschen. In dem Dokumentarfilm „Der Unbeugsame“ gibt es eine Stelle, an der Swjatoslaw Richter über sich sagt: „Ich spiele nicht für das Publikum, sondern nur für mich. Wenn es mir gefällt, werden sie es auch mögen.“

Konzert: 13.4., 19.30 Uhr, Laeiszhalle. Restkarten.CDs: „Sokolov. The Salzburg Recital“ (DG, 2 CDs). „Swjatoslaw Richter. The Complete Album Collection“ (Sony Classical, 51 CDs)