Und plötzlich überholt die Realität die Fiktion. Während der junge Regisseur Konradin Kunze mit seinem Hamburger Ensemble noch mitten in der Leseprobe zum Theaterstück „Himmel“ steckt, erschießen in Paris ein paar brutale Islamisten die Redakteure der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, ein weiterer Täter nimmt Geiseln in einem jüdischen Super- markt, auch hier sterben Unschuldige. Kunze und seine Schauspieler sind – wie alle Welt – geschockt. Ob der Grausamkeit der Anschläge, natürlich, aber auch weil das, was der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad in seinem Stück schreibt, plötzlich einen ganz neuen Aktualitätsschub bekommt.
„Wir folgen den Figuren des Stücks, Mitarbeitern einer Anti-Terror-Einheit, die versuchen, einen sich ankündigenden globalen Anschlag auf mehrere Städte des Westens zu verhindern“, schreiben der Regisseur und seine Spieler auf der Website des Jungen Schauspielhauses. Sie sprechen über den Zusammenhang zwischen Terror und Kunst, die omnipräsenten Bilder von Terror und Krieg, „ein regelrechter Bilderkrieg, den die Terroristen, aber auch der Westen führen“.
Ein paar Tage später sitzt Konradin Kunze, ein stiller, reflektierender Mann, in einem Café in Ottensen und schüttelt den Kopf. Schon zwei weitere Stücke hat er von Wajdi Mouawad inszeniert, darunter dessen bislang größter Erfolg „Verbrennungen“. An „Himmel“, einem Stück, das am 20. Februar Premiere feiert und in Geheimdienstkreisen und mit Verschwörungstheorien spielt, interessierte ihn zunächst die grundsätzliche Aktualität durch den Fall Edward Snowden. Paris – und jetzt auch Kopenhagen – verleihen dem Ganzen jedoch eine zusätzliche Dimension. „Es waren ja nicht die ersten Terroranschläge“, sagt Kunze, „aber es waren Anschläge auf die Freiheit der Kunst.“ Eine islamistische Terrorgruppe steckt in „Himmel“ nicht hinter der Bedrohung, „dann hätte man das Stück nicht mehr machen können“, glaubt Kunze. „Aber das schwingt halt mit. Wenn man das Stück liest oder später schaut, kriegt man Snowden und Paris vermutlich schwer aus dem Kopf.“
Konradin Kunze, Jahrgang 1977, ursprünglich selbst Schauspieler und mittlerweile freier Regisseur, hat ein Faible für brisante Stoffe. Auch „Paradise Now“ hat er in Hamburg schon in Szene gesetzt, ein Stück über junge Selbstmordattentäter. „Ich frage mich selbst manchmal, woher das Interesse für diese Themen kommt“, sagt er und zuckt mit den Schultern. „Wenn man sich einmal damit beschäftigt, will man daran weiterarbeiten.“ Einen politischen Standpunkt will er damit nicht zwingend verbinden. Konradin Kunze geht es mehr um Fragen als um Antworten, auch beim Inszenieren. „Lösungen zu präsentieren, fände ich an- maßend. Und Ratlosigkeit halte ich nicht grundsätzlich für verkehrt.“ Vielleicht ist genau das die Haltung, die Konradin Kunze auch als Künstler antreibt. Die Ratlosigkeit auszuhalten, um Neues zu entdecken. Fragen zuzulassen, um Antworten zu erahnen.
Kunze selbst, der schon als Kind unter dem späteren Schauspielhaus- Intendanten Friedrich Schirmer in Freiburg auf der Bühne stand und den Schauspielberuf später in Hannover erlernte, hat sich nie als „Bauchschauspieler“ begriffen. „Ich war immer ein Kopfschauspieler“, sagt er. Einer, der mitdenkt. Der nicht nur intuitiv arbeiten, nicht nur fühlen und ausführen will, sondern beeinflussen, verstehen, verantworten. Entscheidend mitgestalten. Und das bedeutet am Ende eben: Regie führen.
So hat er – noch im Ensemble des Jungen Schauspielhauses unter dessen Leiter Klaus Schumacher – vor neun Jahren seine erste Inszenierung übernommen. Er hat die Seiten gewechselt, ist gewissermaßen von der Bühne hinabgestiegen, um selbst die Kollegen in Szene zu setzen. „Das habe ich ganz klar Klaus Schumacher zu ver- danken, der Vertrauen hatte und gesagt hat: Mach mal!“ Dabei ist es seither – mit gelegentlichen Ausflügen in den alten Beruf – geblieben. Nur manchmal kann der Schauspieler dann doch nicht aus seiner Haut. „Ich versuche schon weitgehend zu vermeiden, meinen Kollegen etwas direkt vorzumachen. Das mögen Schauspieler nicht so, das weiß ich auch. Aber manchmal brauche ich das, weil mein Hirn vielleicht einfach so funktioniert.“
Vor allem an seinen ehemaligen Wirkungsstätten arbeitet er nun regelmäßig, am Jungen Schauspielhaus in Hamburg oder auch am Moks in Bremen. Jugendtheater. Wobei solche Klassifizierungen nicht seine Sache sind: Eigentlich müsse man keinen Unterschied machen zwischen jugendlichen und erwachsenen Themen, findet Kunze. „Man kann den Jugendlichen mehr zumuten als man manchmal denkt.“ Dasselbe gilt am Ende auch für die Arbeit als Regisseur, die mit jeder neuen Inszenierung auch neue Herausforderungen bereithält. „Heute morgen habe ich versucht, Quantenkryptografie zu verstehen“ sagt Konradin Kunze und meint das durchaus ernst. „Also, ich wollte wissen, was das überhaupt ist. Macht Spaß! Würde man privat jetzt vielleicht nicht so drauf kommen.“ Kunze lächelt. „Quantenkryptografie“, sagt er noch mal, und wie er das sagt, fast feierlich, versteht man sofort, wa- rum Konradin Kunze eines Tages nicht mehr Schauspieler, sondern auch Regisseur sein wollte.
„Himmel“ am Jungen Schauspielhaus, Premiere am 20.1. (ausverkauft), für die Vorstellungen am 22.2., 24.2. und 23.3. , 19 Uhr, sowie am 24.2., 25.2. und 25.3., 10.30 Uhr, Restkarten unter Tel. 248713
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