„Der Mond ist aufgegangen“ („Abendlied“) war ein Hit. Schon 1779, als es noch gar keine Melodie dazu gab. Es war das einzige zeitgenössische Gedicht, das Johann Gottfried von Herder (1744–1803) in den zweiten Teil seiner Sammlung „Volkslieder“ aufnahm. Allerdings kürzte der Claudius-Freund es beherzt um die beiden letzten Strophen.

Für den Wissenschaftler gehört das Poem zum Typus der geistlichen Gesänge. Von der Naturbeschreibung in der ersten Strophe geht es zur Reflexion in die folgenden über und wird mehr und mehr zum Gebet.

Dabei wird Claudius beschuldigt, den Kosmos sozusagen physikalisch inkorrekt und deshalb rückständig dargestellt zu haben. Der „Aufgang“, das „Prangen“ der Himmelskörper legen dem tief denkenden Leser ein Himmelszelt und mithin die Verleugnung der kopernikanischen Wende nahe, heißt es im Literaturportal „litde.com“. Allerdings würden schlichte Gemüter das gar nicht merken und die Verse nahtlos in ihre kindlich-naive Sicht der Welt einbauen. Das ist eher mein Gebiet.

Demnach scheinen die Himmelskörper beschaulich und vertrauenerweckend den Wald zu beleuchten. Der allerdings ist undurchdringlich dunkel und, als Naivlinge wissen wir es alle, der Wohnort der Räuber. Der weiße Nebel bringt als Verschleierer zusätzliche Mysterien ins Spiel, die dem Menschen zweierlei klarmachen. 1. Er ist nicht Herr der Lage, sondern umgeben von Geheimnissen. 2. Die Welt ist (trotzdem) schön und lässt uns – in der traulichen Hülle von Strophe zwei – in Ruhe schlafen und vergessen.

Nicht vergessen aber sollte der Leser, dass im Verborgenen ganze Mondhälften herumlungern, die sich unseren Blicken entziehen und somit der beobachtungsgebundenen Ratio ihre Grenzen aufzeigen. Diese sind nach Meinung des Dichters offenbar mit dem „Spinnen von Luftgespinsten“ und übertriebenem „Suchen nach Künsten“ gelegentlich schon im 18. Jahrhundert deutlich überschritten worden.

Die Empfehlung folgt auf dem Fuße von Strophe 5: Kinder an die Macht. Ihre Fröhlichkeit und vertrauensvolle Hingabe, so übersetze ich mal etwas unsauber das „fromm“, bringt die Menschheit wieder in die Spur.

Danach in Strophe 6 wird es christlich. Und eher frömmelnd als fromm. Herder hat sie nicht ganz zu Unrecht rausgenommen. Die letzte Strophe aber ist wieder Hochliteratur.

Der kalte Hauch lässt uns die Kräfte erahnen, die wirklich die Geschicke bestimmen. Die Bitte um Gnade bezieht ihre Kraft aus dem Gemeinsinn, der den bedürftigen Nachbarn einschließt auch dann, wenn er möglicherweise das Bitten beziehungsweise Beten verlernt haben sollte.