Drittes Reich: Die Dokumentation „Der Anständige“ schildert das Leben Heinrich Himmlers anhand persönlicher Dokumente aus seinem Nachlass. Neue Einblicke in das Seelenleben seiner Tochter

Schon der Titel provoziert Widerspruch: Die Filmemacherin Vanessa Lapa hat ihre knapp 90 Minuten lange Dokumentation über Heinrich Himmler „Der Anständige“ genannt. Auf den ersten Blick wohl die unpassendste, ja unanständigste Beschreibung für einen der schlimmsten Massenmörder der Menschheitsgeschichte. Als Reichsführer-SS, Chef der deutschen Polizei und Innenminister des Dritten Reichs war Himmler direkt verantwortlich für die Ermordung von Millionen von Menschen, für die Einrichtung der Konzentrations- und Vernichtungslager.

Und gleichzeitig, so belegt es der ungewöhnliche Film, den die ARD am Montag als Fernseh-Erstausstrahlung zeigt, ein geradezu erschreckend banaler Spießbürger, der von Heldentaten im Namen des deutschen Volkes träumt, der seine Frau Marga betrügt, mit seiner „Häsi“ genannten Geliebten zwei Kinder zeugt und sich schließlich der Verurteilung durch die Allierten feige mit seinem Selbstmord entzieht.

Das Besondere an „Der Anständige“, der auf der Berlinale 2014 Premiere hatte, ist die Perspektive, die er zu Himmler einnimmt. Lapa kam vor einigen Jahren an Hunderte von privaten Dokumenten, Briefen und Fotos aus dem Nachlass Himmlers, die aus dem Haus der Familie am Tegernsee stammen. Amerikanische Soldaten hatten sie bei Kriegsende nicht ihren Vorgesetzten übergeben, sondern behalten. Von dort aus fanden sie den Weg zum Tel Aviver Chaim Rosenthal, der sie jahrzehntelang behielt. Lapa hat in jahrelanger Sichtungs- und Transkriptionsarbeit daraus eine Lebensgeschichte Himmlers in seinen eigenen Worten, in denen seiner Frau Marga, seiner Tochter Gudrun, seiner Geliebten Hedwig Potthast und anderer gemacht.

Sie ergeben vielleicht kein neues Bild des Massenmörders und seiner Familie. Aber sie fügen dem bestehenden neue Facetten hinzu: Aus den Briefen seiner 1929 geborenen Tochter spricht die Verehrung für den Vater, die sich durch das ganze Leben der heute 85-Jährigen zieht. Mit zwölf Jahren, so notiert das Mädchen Gudrun, habe sie einen Ausflug ins KZ Dachau gemacht, zusammen mit Freunden und Verwandten, ihr Fazit: „Schön ist’s gewesen.“

Ihr Vater schwadroniert derweil darüber, dass nur das deutsche Volk sich Tieren gegenüber anständig verhalten würde, und so würde man auch anständig „gegenüber diesen Menschentieren“ auftreten. Der vermeintliche Anstand, den Himmler noch in den grässlichsten Bluttaten seiner Schutzstaffel zu erkennen glaubt, er zieht sich als Leitmotiv durch den Aufstieg und letztendlichen Fall des obersten SS-Manns. So ist es nur passend, dass Lapa am Ende auf die Bilder des toten Himmler Bilder von Leichenbergen aus den KZ folgen lässt, während ein Auszug aus der infamen Posener Rede Himmlers zu hören ist: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.“

„Der Anständige“ ist ein so sehenswerter wie erschreckender Film, der dem Zuschauer Hannah Arendts Diktum von der „Banalität des Bösen“ eindringlich vor Augen führt.

„Der Anständige“, 22.45 Uhr, ARD