,,Napoli“: Choreograf Lloyd Riggins hat das sehr schwer zu tanzende Stück nach Hamburg geholt. Von der kommenden Spielzeit an ist Riggins offizieller Stellvertreter von Ballettintendant John Neumeier

Hamburg. Es war der 29. März 1842, als im Königlichen Theater Kopenhagen eine „Fröhlichkeit und Begeisterung herrschte, die Tote hätte erwecken können“, wie ein Zeuge berichtete. Es war die Geburtsstunde von August Bournonvilles Ballett „Napoli“, das selbst den Nationaldichter Hans-Christian Andersen derart in Euphorie versetzt hatte, dass er Bournonville (1805–1879), Dänemarks berühmtesten Choreografen und Ballettdirektor, zum „dänischen Ballett-Poeten“ erhob. Wie aber wird das Hamburger Publikum reagieren, wenn am 7. Dezember dessen „Nationalballett“ von der hiesigen Compagnie in der Staatsoper getanzt wird?

Es ist gewissermaßen die hanseatische Wiedergeburt von „Napoli“, denn nur ein einziges Mal wurde es hier getanzt, am 24. Juni 1843, bevor es in Vergessenheit geriet. Auch Lloyd Riggins, Tänzer und Ballettmeister, der nicht nur den Solitär einstudiert, sondern den verloren gegangenen 2. Akt neu kreiert, hat keine Erklärung für die Scheu gegenüber diesem hinreißend fröhlichen Romantical mit dem neapolitanischen Liebespaar Teresina und dem Fischer Gennaro, das erst nach vielfach überstandenen Prüfungen und Gefahren, dank seiner Kraft und seines Glaubens, endgültig zueinanderfindet.

Doch, es gibt möglicherweise eine Erklärung, warum dieses bezaubernde Ballett, in dem keine Typen, sondern Menschen handeln, außer in Dänemark extrem selten aufgeführt wird. Es gehört zu den technisch schwierigsten Balletten, die die Literatur kennt und gleichzeitig zu den scheinbar leichtesten. Es ist wie feinste Klöppelspitze, die staunende Bewunderung erregt, ohne dass dem Betrachter bewusst ist, wie mühevoll sie erarbeitet wurde.

„Alles muss so einfach aussehen, dass der Zuschauer denkt, das kann ich auch“, verrät Riggins während einer Probe zu diesem Kleinod. Er selbst tanzt jede Phrase vor, singt die Melodien, korrigiert und kommandiert in drei Sprachen – „Nicht too extrem. First tombé, coupé, step, step“ – und gerät ein bisschen außer Puste.

Mit Grazie, natürlicher Eleganz, Noblesse und Schnelligkeit in ausbalancierter Ruhe von Kopf, Körper, Armen und Beinen wird er zu jungmädchenhaften Neapolitanerinnen und lässt gleichzeitig erkennen, was Bournonvilles unvergleichlichen Stil ausmacht: An Stelle von athletisch auftrumpfender Virtuosität und artistischen Kraftakten, die im Weiter, Höher, Schneller Bewunderung suchen, steht Harmonie in fließenden, scheinbar nicht endenden Bewegungen, die sich von Phrase zu Phrase fortsetzen. Linie und Form sind entscheidend.

Es ist der äußerst kräftezehrende, leicht und selbstverständlich wirkende Triumph des Unterstatements, es ist die Abfolge kniffeligster Rhythmen und Schrittfolgen, die die eigentlich mit allen Techniken und Stilen vertrauten Tänzer des Hamburg Balletts an ihre Grenzen treibt.

Konzentriert und dennoch entspannt folgen sie Riggins’ Anweisungen, während sie versuchen, dem gerecht zu werden, was Bournonville als Essenz seines Stils in einem Vorwort zu seinen „Choreographischen Studien“ fordert: Noble Einfachheit in der plastischen Schönheit der lyrischen und dramatischen Expressivität. Tanz habe Freude auszulösen und dem Rhythmus der Musik zu folgen, um sich in die Höhen der Poesie zu erheben. Akrobatische Exzesse und vordergründige Überraschungen dagegen seien tabu, weil langweilig.

Nur wenige Auserwählte, das wusste bereits Bournonville, haben das Talent, diese Anforderungen zu erfüllen. Lloyd Riggins hat es. Es gibt kaum einen Berufeneren, der Geist, Technik und Stil Bournonvilles so klug und authentisch vermitteln kann wie er: Mit 17 Jahren wurde der heute 46-jährige gebürtige New Yorker Ensemblemitglied, dann Erster Solist des Königlichen Balletts Kopenhagen, er reifte dort zum außerordentlichen Tänzer, bevor er 1995 als Erster Solist an das Hamburg Ballett von John Neumeier wechselte. Den Schatz der Bournonville-Ballette, die er unzählige Male getanzt hatte, in sich bewahrend. Jetzt schenkt er ihn sozusagen der Öffentlichkeit.

Wobei sich eine originalgetreue Reproduktion von „Napoli“ allein schon deshalb verbietet, wie Riggins erläutert, „weil nicht nur die Tänzer heute vollkommen anders sind als zu Bournonvilles Zeiten“. Wie sehr sich die Tänzer nicht nur figürlich verändert haben, das zeigt sich in Büchern, deren Fotos Riggins immer wieder zu Rate zieht. Allein der Meeresdämon Golfo im 2. Akt sieht auf einer Darstellung aus wie ein furchterregender Wilder aus der Steinzeit.

Für Riggins aber ist dieser Wassergeist, der in der „Blauen Grotte“ von Capri von ihm in Najaden verwandelte Jungfrauen gefangen hält, die keine Erinnerung mehr an ihr früheres Leben haben, ein Charakter mit menschlichen Gefühlen. Er ist nicht durch und durch böse, er entwickelt Zuneigung zu Teresina, die durch ein Unglück in dieses Gefängnis der Seelen geriet und zur Najade wird. Sanft umwirbt er sie, die unbefangen und neugierig ihm gegenübertritt und keine Abscheu vor ihm empfindet.

Diese interpretatorische Freiheit nimmt sich Riggins, der die Arbeit als kreativen Prozess mit den Tänzern versteht. Stilistisch freilich nähert er sich Bournonville an mit einem Vokabular, das den Fluss der Bewegungen aufnimmt und dennoch heutig wirkt. Es gibt also keinen Bruch zwischen den traditionellen Rahmenakten.

Von der kommenden Spielzeit an ist Lloyd Riggins offizieller Stellvertreter von Ballettintendant John Neumeier. Versteht er diese Arbeit sozusagen als Gesellenstück, als Einstieg in eine mögliche choreografische Zukunft? Riggins Antwort ist knapp und deutlich: „Dieses Ballett ist eine gute Herausforderung für mich. Ich will eine Geschichte erzählen, die ich kenne, mit der Entwicklung, die sie seit der Uraufführung durchgemacht hat. Im Moment denke ich nicht an die Zukunft, jetzt ist jetzt, und da konzentriere ich mich allein auf dieses Projekt.“

„Napoli“ Premiere So 7.12., 18.00, weitere Aufführungen am 10./13./31.12. und 2015, Hamburgische Staatsoper, Karten unter T. 35 68 68