Die Moskau-Korrespondentin Golineh Atai sieht sich als „Menschenberichterstatterin“. Heute wird sie mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt

Hamburg. Streikende Lokführer, weniger Aufschwung und auch noch die Pkw-Maut? Wie niedlich. Über Zustände, wie sie Deutschland gerade als katastrophal empfindet, würde Golineh Atai liebend gern berichten. „Die Messlatte verschiebt sich, wenn man im Ausland lebt“, amüsiert sie sich, während ihr Gegenüber in Hamburg am Telefon sitzt und sie in ihrem Korrespondentenbüro in Moskau. „Mein Gott, was sind das für Probleme?“ Sie sieht seit Jahren ganz andere.

Atai ist bei der ARD die Frau in Moskau, die zuverlässig vor Ort ist, wenn Krisen ausbrechen oder sich bis zur blutigen, tragischen Unverstehbarkeit verschlimmern. Sie war vorher im Irak, in Kairo, im Libanon, im Iran, im Sudan und in Libyen. Stabiler Frieden war nie dabei. Ausgesucht hat sie sich diese Aufgaben so nicht, aber sie stellt sich ihr mit einer Aufrichtigkeit, die auch aus der Komfortzone des Wohnzimmers beeindruckt. Wer konnte schon ahnen, dass aus der 1974 in Teheran geborenen Journalistin, die im idyllischen Heidelberg Romanistik, Politologie und Iranistik studierte und ihr Examen über „Kulturelle Selbst- und Fremderfahrung im maghrebinischen Roman“ schrieb, eine Krisen-Reporterin wird, die ständig zur Einordnung des Passierten dort ist, wo es weh tut. Auch ihr selbst.

Einen guten Journalisten erkenne man daran, dass er sich mit keiner Sache gemein mache, auch nicht mit einer guten: der Klassiker der Nachrichten-Legende Hanns Joachim Friedrichs, Namensgeber des Preises, mit dem heute neben dem Hamburger TV-Autor Stephan Lamby auch Atais Arbeit ausgezeichnet wird. Sie sieht das zwar ähnlich, aber anders. „Das ist ein Satz, an dem ich mich auch immer reibe. Es ist zutiefst menschlich, dass man eine Nähe zu Freiheitskämpfern fühlt, für deren Sache. Auch bei der arabischen Revolution sind wir den Menschen auf dem Tahrir-Platz mit Sympathie begegnet und haben mitunter vielleicht nicht gleich auf die Wahnsinnsproblematik dahinter hingewiesen“, sagt sie einerseits, um dialektisch zu werden und selbstkritisch zu bleiben: „Dieser Satz bedeutet für mich: Auch wenn man über eine Menschenrechtsbewegung berichtet, muss man im Blick behalten, dass jeder auch von eigenen Interessen geleitet ist.“

Dass Atai in den kurzen Aufsagern am Rande irgendeines Krisenherds selten mehr als die Spitze des Eisbergs zeigen und erklären kann, macht die schwere Arbeit nicht einfacher. „Keine Angst zu haben macht mir Angst“, sagt sie, ohne auch nur einen Hauch von Toller-Hecht-Koketterie in der Stimme. Sie hat gerade vier Wochen Urlaub hinter sich. Abschalten, raus aus der Meldungsmühle. Striktes Nachrichtenfasten hat sie in dieser Auszeit betrieben, auch weil ihr zwei brenzlige Situationen besonders nahe kamen. Da war diese Demo in Donezk, sehr viel Gewalt und ihre Interviewpartner wurden von wild gewordenen Separatisten-Anhängern vertrieben. Und natürlich die Absturzstelle von MH-17, aus dem Himmel geschossen über idyllischem Irgendwo in der Ost-Ukraine. „Ich finde es normal, dass uns so etwas nahe geht. Das wir spüren können“, sagt sie. „Ich bin froh, dass wir so fühlen können. Zu unserem Job gehört eine Menge Selbsthinterfragung und eine gewisse Art von Grundreinigung. Dafür sind Gespräche mit Kollegen ebenso wichtig wie die mit Therapeuten. Das wird uns vom Sender angeboten und das machen wir auch.“

„Auge des Gewissens“ nannte Martha Gellhorn einmal ihre Arbeit. Die dritte Frau des ebenso hartgesottenen Kriegs-Junkies Ernest Hemingway war fast ein halbes Jahrhundert lang als Kriegsberichterstatterin in aller Welt unterwegs. „Ja, sehr schöne Umschreibung“, kommentiert Atai die Arbeitsplatzbeschreibung der Kollegin. „Aber der Journalismus ist nicht nur ein Erziehungsmittel der Mächtigen. Er hält allen, nicht nur den Mächtigen, einen Spiegel vor. Und ermöglicht dadurch vielleicht auch: Selbstreflexion.“ Aber die Einschätzung, dass damals, im Spanischen Bürgerkrieg oder im Zweiten Weltkrieg, die Frontverläufe zwischen den Guten und den Bösen noch viel klarer sichtbar waren als heute, kontert sie mit einer entwaffnend ehrlichen Gegenfrage: „Gibt es irgendwo auf dieser Welt einen durchsichtigen Konflikt?“

Das Eigene und das Fremde zu erfahren hat nicht nur sehr viel mit Atais Job und ihrem professionellen Verständnis zu tun, sondern auch mit der Biografie ihrer Familie, die aus Teheran nach Deutschland kam, als Atai fünf Jahre alt war. „Wie Menschen für grundlegende Rechte kämpfen, die bei uns selbstverständlich sind – diese Welt, in der eine aufgeklärte Minderheit vorprescht und mit vielen Risiken versucht, für Freiheiten zu kämpfen, die liegt mir persönlich sehr nahe.“ Geschichtliche Zusammenhänge und Weltpolitik seien einfach ihr Ding, sagt sie, aber auch, wie schön das erste, weitgehend krisenfreie Jahr in Moskau war, mit Na-so-was-Reportagen über die berüchtigten Staus oder Managern, die auf Bio-Bauer umsattelten. Für klassische Pariser Käse-Verkostungen à la Ulrich Wickert ist Atai wohl sowieso nicht der passende Typ. Doch Ruhe, Zeit, Berichte über das sibirische Russland, über Zentralasien und ganz besonders über die unbekannten anderen Seiten der Ukraine? Das wäre schon schön. Ein bisschen Träumen von Normalitäten aus aller Welt, eingeklemmt zwischen Auftragsarbeiten für die nächsten Nachrichtensendungen.

Kein Wunder, dass es Spuren hinterlässt, die das normale Maß überschreiten, nachdem auch Atais ARD-Berichterstattung über den Russland-Ukraine-Konflikt Ziel wütender Proteste war. Zu russlandkritisch seien sie alle gewesen und daher zu amerikafreundlich. Internetforen, Facebook-Seiten und Twitter-Accounts sind schnell geflutet mit Meinungsmüll. „Die Anzahl der Zuschriften, die gehässig, vulgär oder obszön waren, stieg ins Unermessliche an“, berichtet Atai. „Die Wortwahl ähnelt erschreckend oft der, die hier in den Staatsmedien verwendet wird. Wir haben gedacht, dass man in Deutschland eigentlich weiß, mit welchem System man es zu tun hat.“