Mit Maxim Gorkis „Wassa Schelesnowa“ feierte am Schauspielhaus eine immer noch aktuelle Sozialstudie Premiere

Hamburg. „Ich führe ein sehr erfolgreiches, kleines Familienunternehmen“, hieß es vor ein paar Jahren in einem Werbespot, in dem eigentlich die vielfältigen Aufgaben einer Hausfrau und Mutter dargestellt werden sollten. Wassa Schelesnowa, Titelheldin aus Maxim Gorkis gleichnamigem Stück, führt dagegen ein echtes Unternehmen, eine Reederei; und die Familie, die aus erwachsenen Kindern, Mann, Bruder und allerlei Personal besteht, die führt die Matriarchin außerdem. Keine ganz dankbare Aufgabe.

Ehemann Sergej, einst Kapitän, ist ein Wüstling, demnächst droht ihm ein Prozess als Kinderschänder. Bruder Prochor, lebt als verkommener Suffkopf. Von den neun Kindern, die Wassa geboren hat, sind ihr drei geblieben, ein kranker, im Ausland lebender Sohn und zwei Töchter, von denen die eine die Mutter hasst und trinkt, die andere in aufdringlichem Überschwang die Mutter nervt. Das Personal will klauen, nicht arbeiten, sich in Liebesabenteuer stürzen. Hier wird zu Hause wie im Geschäft intrigiert, getrickst, betrogen. Die moralische Verwahrlosung ist grenzenlos. Wassa ist die letzte Repräsentantin einer untergehenden Gesellschaft.

Wird das Stück so modern inszeniert wie jetzt von Dieter Giesing am Deutschen Schauspielhaus, ließe sich der Abend salopp auf die Formel bringen: Kinder und Karriere – beides misslingt Wassa.

Als Maxim Gorki, der ein gleichnamiges Stück bereits 1910 geschrieben hatte, es 1935, ein Jahr vor seinem Tod, neu bearbeitete, klagte er darin vor allem eine mehr raffende als schaffende Unternehmermentalität an. Er schrieb eine Sozialstudie über den maroden, dem Untergang geweihten Kapitalismus, der von Verkommenheit, Mord, Egoismus und nackter Gier geprägt ist. Und der sich am deutlichsten im Untergang der vom Besitz zerstörten Familie offenbart. Ein Thema, das den Theatern so aktuell zu sein scheint, dass man in jüngster Zeit Gorkis Drama in Bochum, Berlin und München auf die Bühne brachte.

Giesing und sein Ensemble präsentieren nun eine zeitgemäß moderne Geschichte von der zerstörerischen Kraft des Geldes, der dysfunktionalen Familie, missratenen Kindern, einer eiskalten Karrierefrau. Ja, so etwas kennen wir aus unserem Alltag. Niemand außer Wassa hat hier einen Plan, ein Ziel, Ordnung. Und Wassa kennt nur einen Antrieb, nämlich den, Geld zu verdienen und zu vermehren.

Die Schauspieler sind es, die das Klassenkampf-Drama wie einen Albtraum aus dem Banken- oder Bürowesen aussehen lassen. Zu Hause ist es ungemütlich, zu essen gibt es nichts, und Wassa ist auch kein Muttertier. Maria Schrader spielt Wassa Schelesnowa als eiskalt kämpfende Businessfrau. Im schwarzen Hosenanzug und mit weißer Bluse durchmisst sie energisch den kühlweißen Raum, in den die Spieler durch eine gläserne Drehtür geschoben werden. Für Ehemann Sergej (Markus John) entwickelt sie einen Rettungsplan. Der ihm drohende Prozess wegen Kinderschändung würde sie kompromittieren, also zahlt sie Bestechungsgeld. Als das nichts hilft, drängt sie ihm ein Pulver auf, mit dem er, bitte schön, Selbstmord begehen soll. Schließlich möchte sie ihre Stellung, ihre Firma, ihre Macht behalten, und sei es durch Gewalt gegen die eigene Familie. Lange muss sie nicht bitten, er macht’s. Die Töchter Natalja (Karoline Bär) und Ljudmilla (Josefine Israel) trauern nicht etwa. Natalja schleicht weiter voller böser Gedanken herum, Ljudmilla spielt weiter Kind.

Karl-Ernst Hermann hat für diese Familie aus weltabgewandten Zynikern plus einer Powerfrau einen ästhetisch-leeren Raum gebaut. In dessen Mitte: ein rotes Ledersofa, einzige Sitzgelegenheit. Dort fläzt Wassa herum, lässt alle anderen lange Wege zu ihr gehen, wie der Konzernboss, der sehen will, wie seine Untergebenen sich auf ihn zubewegen müssen. Aber Wassa kennt keine Ruhe, sie ist getrieben, rennt herum. Menschen, Wärme, Nähe – nichts davon erträgt sie. Das macht einsam, misstrauisch. „Ich habe keine Zeit für dich“, sagt sie zu ihrer Tochter, „ich muss mein ganzes Leben lang Verwüstungen in Ordnung bringen.“

Wassas Sekretärin Anna (Ute Hannig), die Dienstmädchen, alle beäugen sich hier, leben hart, freudlos, berechnend nebeneinander her. Einzig Bruder Prochor (Michael Wittenborn), der gern mal jammert, ständig trinkt und dem unordentlich sein Hemd aus der Hose hängt, strahlt sogar im Zorn so etwas wie Wärme aus.

Niemand aus dieser ohnmächtigen, untauglichen Familie ist der Familienunternehmerin Wassa gewachsen. Bis ihre Schwiegertochter Rachel (Thea Rasche) auftaucht, eine im Untergrund lebende marxistische Revolutionärin, die zwar – Kommunismus gegen Kapitalismus – genau das Gegenteil von Wassa vertritt, die aber ebenso wie Wassa Kind und Familie ihren Ideen opfern will. Wassa hat Rachels Sohn Kolja auf dem Land versteckt, sieht ihn als künftigen Erben und weigert sich, ihn Rachel zurückzugeben. Rachel wird eine ähnlich schlechte Mutter sein, wie Wassa es war. Sie will für die Revolution kämpfen. Aber Wassa soll Kolja nicht behalten: „Ich kenne Ihre Klasse recht gut, das ist eine hoffnungslos kranke Klasse. Der Lebensraum für Leute wie Sie wird enger, für Egoisten“, wirft Rachel ihrer Schwiegermutter an den Kopf. Und Wassa, die sich gerade noch als Gewinnerin in diesem Duell sah, stirbt plötzlich an einem Herzinfarkt.

Kein Sieg für die Revolution. Denn kaum ist Wassa tot, wird das Personal quicklebendig, bedient sich aus den Geldverstecken, und Prochor rafft alles aus dem Safe zusammen. „Stehlen Sie?“, ruft Rachel ihm zu. „Ich nehme mein Eigentum“, entgegnet er. Und Rachel rätselt: „Was ist bei euch denn Eigentum?“

Kühle Statements wirft man sich in dieser Inszenierung um die Ohren, viel Schwarz und Weiß, ganz so wie die Kostüme (Fred Fenner). Dieter Giesing lässt in knapp zwei Stunden Menschen aufeinandertreffen, die wie Verlorene auf einer Vernissage wirken, auf der Maria Schrader kühl und alert die Besucher manipuliert. Und das allein ist ziemlich modern.

Weitere Aufführungen am 24./28. 10., 2./12.11.