Die ARD zeigt „Die Auserwählten“, eine fiktive Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule mit Julia Jentsch und Ulrich Tukur.

Hamburg. 2010 gelangte ein Skandal an die Öffentlichkeit, den man bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. An der hessischen Odenwaldschule, einem reformpädagogischen Vorzeigeprojekt, hatte es mindestens 132 Missbrauchsfälle gegeben. Schulleiter Gerold Becker und seine Kollegen hatten sich immer wieder an den Schülern vergangen. Erste Vorwürfe von betroffenen Schülern aus den 90er-Jahren hatte man noch unter den Teppich gekehrt. Die ARD zeigt heute „Die Auserwählten“ eine fiktionale Aufarbeitung der Ereignisse mit Julia Jentsch, Ulrich Tukur und Rainer Bock. Betroffene ehemalige Schüler, die sich in den fiktiven Charakteren wiederzuerkennen glaubten, hatten bis zuletzt versucht, eine Ausstrahlung des Films mit juristischen Mitteln zu verhindern.

Julia Jentsch spielt die Lehrerin Petra Grust, die Ende der 70er-Jahre an die Odenwaldschule kommt und zunächst begeistert ist von der liberalen Atmosphäre. Sie wird geprägt vom charismatischen Schulleiter Simon Pistorius, der im Kollegium, in der Elternschaft und der deutschen Öffentlichkeit hohes Ansehen genießt. Ulrich Tukur spielt ihn als luzide-schleimigen Egomanen und Sextäter, der Zweifel an seiner Person rhetorisch abbürstet. In der in idyllischer Einsamkeit gelegenen Schule ereignen sich unter dem reformpädagogischen Deckmantel Ungeheuerlichkeiten. Pistorius duscht mit seinen Schülern und missbraucht sie. Lehrer Thomas (Adam Bousdoukos) hat ein Verhältnis mit einer Schülerin. Grust erkennt zwar das Unrecht, steht ihm aber hilflos gegenüber.

„Ich war durchgerüttelt durch dieses Buch, das mich geschockt hat“, sagt Julia Jentsch, die gerade erst in „Monsoon Baby“ als Frau zu sehen war, die sich ihren Kinderwunsch mithilfe einer indischen Leihmutter erfüllen möchte. Zuerst hatte sie Zweifel, ob sie die Rolle annehmen sollte. „Will ich mich jetzt länger und intensiv mit Kindesmissbrauch beschäftigen?“ Aber dann war ihre Entscheidung klar, das Leid der Kinder rührte sie zutiefst. „Erst müssen sie sich überwinden, um überhaupt über den Missbrauch reden zu können, und dann glaubt man ihnen noch nicht einmal. Sie haben eine Beziehung zu einem Menschen aufgebaut, den sie als Vorbild empfunden haben. Sie werden mit ihren Gefühlen ausgenutzt, ohne dass sie es sofort merken. Sie kommen aus der Situation nicht mehr heraus, fühlen sich schlecht und schuldig.“

Der in England aufgewachsene Regisseur Christoph Röhl studierte dort Germanistik und Geschichte, als ihn ein Erasmus-Stipendium nach Deutschland führte. Er kam zur Odenwaldschule und lernte dort Deutsch. „Zunächst war ich begeistert“, erinnert er sich. „Man war sehr stolz und sagte sich: Wir sind die beste Schule! Man hat ständig die eigene Geschichte aufgearbeitet, hat berühmte Leute eingeladen und fühlte sich auf dem pädagogischen Olymp. Langsam habe ich aber gemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Es gab verschiedene Missstände, die nichts mit dem zu tun hatten, was man als ideal dargestellt hat. Und dann habe ich gemerkt, dass es ein Frageverbot gibt. Nach zwei Jahren wollte ich dringend da weg.“

Das war 1991. Danach wollte er mit der Schule eigentlich nichts mehr zu tun haben. Als aber die ersten Missbrauchsfälle bekannt wurden, entschied er sich, einen Dokumentarfilm darüber zu drehen. In „Und wir sind nicht die Einzigen“ kommen die Opfer zu Wort. Jetzt hat er die Ereignisse noch einmal in einem Spielfilm verarbeitet, weil er sowohl die Hilf- und Sprachlosigkeit der Opfer als auch das verschwörerische Schweigen in den pädophilen Kreisen noch einmal zeigen wollte.

Für Röhl ist das kein auf Deutschland beschränktes Phänomen. „Auch in den englischen Privatschulen wie Westminster, Harrow und Eton war es seit Jahrzehnten bekannt, dass dort Jungen missbraucht wurden. Keiner hat es angesprochen, auch weil viele dieser Männer später in Regierungskreisen gelandet sind. Gerade die Elite hatte etwas zu verlieren und outete sich nicht. Das ist vielleicht ein Vorbote von dem, was in Deutschland passieren wird. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass wir bisher erst die Spitze des Eisbergs gesehen haben.“

„Die Auserwählten“ Mi 20.15 Uhr, ARD